Über zeitgenössisches Bauen

Ein Architekt, der nach einjährigem Dornröschenschlaf das Deutsche Architekturmuseum (DAM) betritt, um zu sehen, was die Kollegen in der Zwischenzeit so gebaut haben, könnte denken, er sei in eine Zeitschleife geraten. Wieder geht der DAM-Preis für die beste deutsche Architektur im In- und Ausland an die „behutsame Rekonstruktion“ eines großen Berliner Museums aus dem 19. Jahrhundert. Wieder lobt die Jury die sichtbar gelassenen Bruchstellen zwischen Alt und Neu. Wieder heißt es, die Architekten setzten mit ihrem „Mut zur Wunde“ neue Maßstäbe und gäben der Diskussion um Wiederaufbau und Denkmalpflege neue Denkanstöße. Wieder zeigt der Katalog Einschlusslöcher am Gebäudesockel.

Alles wie im vergangenen Jahr. Nur handelt es sich diesmal nicht um Chipperfields „sensible“ Restaurierung von Stülers Neuem Museum, sondern um das Berliner Naturkundemuseum, das Diener & Diener so „modern und geschichtsbewusst zugleich“ wiederhergestellt haben. Das Basler Büro, das 2001 den umstrittenen Betonbunker der Schweizer Botschaft neben das Kanzleramt setzte, kopierte mit einem eigens entwickelten Abgussverfahren die erhaltenen Fassadenelemente und baute den Ostflügel mit einer vorgehängten, hinterlüfteten Außenhaut aus Betonfertigteilen wieder auf. Wie Paul Klee, der das durch Feuer beschädigte Gemälde „Tierschicksale“ seines Freundes Franz Marc bewusst mit gedeckteren Farben restaurierte, beließ Roger Diener die neuen Fassadenteile in einem fahlen Betongrau.

Und trotzdem sehe der Sauriersaal eben nicht aus wie frisch restauriert, schwärmt Juryvorsitzender und DAM-Direktor Peter Cachola Schmal. Der Terrazzo-Boden strahle sogar Patina aus, und die Glasscheiben mit ihren flirrenden Schlieren im Antikglas wirkten gar „authentisch“. Als hätte es Hitler und den Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Richtig gruselig wird es aber erst in der sogenannten Nasssammlung, einem sechs Meter hohen Schaulager, dessen Inneres blutrot gestrichen ist. Die Besucher laufen um eine zweigeschossige, von innen leuchtende Glasvitrine, in der 270 000 Gläser mit in Alkohol eingelegten Tierpräparaten stehen. Dahinter arbeiten außerhalb der Öffnungszeiten sogar echte Wissenschaftler.

Natürlich ist das alles ganz wunderbar – die sichtbaren Wunden, der Terrazzo-Boden, die Exponate irrer Biologen aus der Kaiserzeit. Auch freut sich wohl jeder Hauptstadttourist, wenn er hört, dass nun endlich Berlins letzte Kriegsruine wiederhergestellt ist. Trotzdem mag sich manch weit gereister Besucher fragen, ob deutsche Architektur nicht mehr zu bieten hat als die „behutsame“ Restaurierung Berliner Museen, den Wiederaufbau von Stadtschlössern und die Versetzung ganzer Innenstädte in mittel- und vormittelalterliche Zeiten.

Zumal Diener & Dieners Ansatz nichts wirklich Neues ist, wie selbst Peter Cachola Schmal bemerkt: Schon vor 54 Jahren habe Hans Döllgast mit dem Wiederaufbau der Alten Pinakothek in München etwas Ähnliches versucht. Zwar ohne Betonfertigteile, aber auch dort stechen die „Wunden“ deutlich aus der Fassade. Sicher ist zu bedenken, dass der Gewinner des Vorjahres selbst in der Jury sitzt und ein Votum für ein ähnliches, nur kleiner dimensioniertes Projekt seine Position im Gefüge der internationalen Stararchitekten festigt. Und natürlich ist die Frage, was überhaupt zur Auswahl steht. Denn trotz aller Kritik zeigt der DAM-Preis, was in Deutschland momentan „state of the art“ ist. Zwei Drittel dieser Bauten, die 2010 und 2011 in Deutschland entstanden sind, sind Rekonstruktionen, Erweiterungsbauten oder lassen „Vergangenes subtil wieder aufleben“ wie es im Katalog heißt. Das klingt ziemlich kleingeistig – ist es mitunter auch -, und doch gibt es einige überraschende Einfälle, die Dieners Betonfassadenteile locker in den Schatten stellen.

Staab Architekten etwa zimmerten dem Dresdener Albertinum nach der Flutkatastrophe eine „Arche für die Kunst“ – ein aufgesetztes Dach mit zwei Geschossen für Depots und Werkstätten, das den bis dato offenen Hof in einen zusätzlichen Ausstellungssaal verwandelt. Obwohl dort oben tonnenschwere Schätze lagern, wirkt die Decke von unten federleicht und luftig. Tadao Ando kombiniert in Bad Münster eine traditionelle Feldscheune von 1785 mit dem für ihn typischen Sichtbeton – ein spannungsreicher Rahmen für das darin untergebrachte Steinskulpturenmuseum. Ebenfalls von bizarren Steinformationen haben sich Becker Architekten für ihr Wasserkraftwerk in Kempten im Allgäu inspirieren lassen. Kraftvoll und elegant wie ein Aal schlängelt sich ihre Betonskulptur durch die Iller.

In Berlin-Buch umhüllten Glass Kramer Löbbert Architekten das neue Herzstück des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin – einen 35 Tonnen schweren Ganzkörper-Magnetresonanztomografen – mit einem wunderbar leichten, fast transparenten Mantel. Wie ein ätherischer Körper mit durchlässiger Außenhaut leuchtet dieser white cube nun zwischen den klobigen Funktionsbauten auf dem Campus.

Es muss nicht immer der ganz große Maßstab sein. Auch ein Einfamilienhaus in einem Frankfurter Hinterhof kann architektonisch etwas wagen – sogar wenn es auf den Grundmauern einer Gründerzeitvilla fußt. Meixner Schlüter Wendt Architekten haben mit ihrem modernistischen „Haus Schmuck“ eine Wohnoase mitten im für eine Großfamilie eigentlich unbezahlbaren Westend geschaffen. Ihre Architektur – ein ungewöhnlicher Grundriss, wechselnde Deckenhöhen, eine loggiaartige Brücke, ein kleiner Rasenhügel im Garten – vereint jene Gegensätze, die sich dem Glück junger Familien sonst entgegenstellen: Wohnen im Grünen oder Leben in der Stadt? Bezahlbares Eigenheim oder individueller Entwurf? Die Nachbarn einladen oder aussperren?

Wenn der Jury des DAM-Preises die historischen Museen in Deutschland so am Herzen liegen, vor allem aber die „Wunden“, die sich in ihren Fassaden zeigen, ist schon zu erahnen, was sie im nächsten Jahr auszeichnen wird: das Militärhistorische Museum in Dresden, das vergangenen Herbst mit großer Geste wiedereröffnet wurde. Auch hier handelt es sich um die Erweiterung eines historischen Gebäudes – immerhin ein dreiflügeliger Arsenalbau aus cremefarbenem Sandstein, wenn auch nicht kriegsversehrt. Daniel Libeskind hat in die neobarocke Fassade einen Stahlkeil getrieben wie einen Granatsplitter in die Brust eines Soldaten. Mehr Wunde geht nicht. Nur „behutsam“ – das Lieblingswort der Juroren – ist diese Symbolarchitektur natürlich nicht.

 

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 2. Februar 2012 im Feuilleton der Welt.

Bild: „Militärhistorisches Museum Dresden“ by Mark Schneider under Creative Commons License

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