Über Tobias Zielony

Eine Wand, ein Hochbett, Bettlaken. Alles wackelt, schwarz-weiß, grobkörnig, unscharf. Die Schemen eines jungen Mannes tauchen auf, Doppelkinn, lange Haare, mächtiger Körper, plötzlich ist alles schwarz. Eine Stimme aus dem Off spricht schwer verständliches Englisch, berichtet von üblen Schlägen, lebensgefährlichen Tritten, Blut, Schreie, Schmerzen. Und dann: „Freiheit – eine Freiheit, wie ich sie niemals zuvor gespürt habe.“ Einen Tag vor seiner Entlassung erzählt ein jugendlicher Gefängnisinsasse von dem Ausstiegsritual, das er über sich ergehen lassen musste, damit seine Gang ihn freilässt.

 Was genau passiert ist, bleibt im Dunkeln. Was zählt, ist die Geschichte und wie der junge Mann sie erlebt hat. „Das ist schließlich kein Aufklärungsfilm“, sagt Tobias Zielony, der den Bericht mit einer alten Super-8-Kamera aufgenommen und zu diesem albtraumartigen Video-und-Sound-Piece zusammengeschnitten hat. Das Video ist Teil von Zielonys neuer Serie „Manitoba“, die jetzt erstmals vollständig im Frankfurter MMK Zollamt zu sehen ist. In Winnipeg, der Hauptstadt des kanadischen Bundesstaates Manitoba, hat Zielony Jugendliche mit indianischen Wurzeln fotografiert – viele davon sind Mitglieder in Straßen- und Gefängnisgangs wie der junge Mann aus dem Video.

Tobias Zielony kennt sich aus mit Gangs. Der 1973 geborene Fotograf hat keine Berührungsängste. Er geht in die Randgebiete unserer aufgeräumten Gesellschaften, dort, wo sich die Jugendlichen aus den „Problemvierteln“ treffen und wo sich sonst kaum jemand hintraut: in die Banlieue von Marseille, das Getto von South Los Angeles, die Plattenbausiedlungen von Halle-Neustadt, die Wohnsilos von Vele di Scampia, einem Vorort von Neapel, der von der Camorra beherrscht wird.

Zielony hat eine Art – so gelassen und unprätentiös -, dass Jugendliche schnell Vertrauen zu ihm fassen. Sie lassen ihn nah ran, zeigen sich im grellen Licht von Neonreklamen, posen an der Bushaltestelle, auf dem Parkplatz vor Netto. Für die sensiblen Porträts von Menschen, die sonst keiner in den Fokus setzt, wurde Zielony gerade mit dem hochdotierten Karl-Ströher-Preis ausgezeichnet.

Herausragend sind seine Arbeiten unter anderem deshalb, weil er sich bewusst absetzt von gängigen Interpretationen des klassischen Bildjournalismus, der sich sonst für die Dokumentation sozialer Ungleichheiten zuständig fühlt. Während klassische Fotoreporter Bewohner von sozialen Brennpunkten häufig Schwarz-Weiß ablichten, um die angebliche Tristesse ihrer Existenz zu betonen, erscheinen Zielonys Protagonisten in prächtigen Farben, oft hell erleuchtet vom Licht der Straßenlaternen.

Weil Zielony ohne Blitz fotografiert und nachts mit dem vorhandenen Licht und langen Belichtungszeiten arbeitet, tritt die Person extrem in den Vordergrund, der Hintergrund wird grobkörnig und verunklart sich. Ein Effekt, der für Zielony Programm ist: Er enthebt die Figur ihrem Kontext, sie könnte überall stehen – in South Los Angeles, Bristol oder Halle-Neustadt.

In „Manitoba“ stößt dieses Verfahren jedoch an Grenzen. Schließlich definieren sich die Jugendlichen dort gerade über ihren Hintergrund, ihre indianische Herkunft. Zwar tragen sie die gleichen Basketball-Shirts und -Kappen wie ihre Altergenossen aus der Bronx. Aber in ihrem Gesicht und ihrer Haltung erkennt man den Stolz der Vorfahren. Die Serie sei der Versuch, eine Ortsbeschreibung auf mehreren Ebenen zu sein, sagt er. Gleichwertig setzt er unterschiedliche Bildgenres nebeneinander, zeigt Porträts, Gruppenaufnahmen sowie Bilder der Architektur und Landschaft in Winnipeg und einem Reservat.

Zielonys Landschaftsaufnahmen dokumentieren, wie die weißen Siedler das Land, das ihnen gar nicht gehörte, konsequent mit Straßen und Schienen, Strom- und Telefonleitungen durchzogen, bis aus den Steppen und Flusslandschaften eine asphaltierte Welt mit Glastürmen, Gewerbehöfen und umzäunten Sportplätzen wurde. Den „first nations“, wie die Indianer in Kanada korrekt genannt werden, blieb nichts anderes übrig, als sich darin einzurichten: Sogar im Gefängnishof haben sie sich Schwitzhütten gebaut, um die Rituale ihrer Urahnen durchführen zu können.

Historische Tiefe bekommt die Serie durch die Aufnahmen, die Zielony im Manitoba Museum of Man and Nature gemacht hat. Das Museum ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Geschichte der Indianer und der weißen Siedler gleichberechtigt nebeneinanderzustellen. Hier sieht man die „residential schools“, in denen die von ihren Familien getrennten Indianerkinder zivilisiert werden sollten, man sieht Indianerpolizisten in Marineuniformen und Federschmuck neben ihren pelzbemützten weißen Kollegen stehen. Mitunter tritt der Indianer auch als Büffel jagender Reiter oder weiße Siedler bekämpfende Rothaut auf.

Aus den 42 Einzelaufnahmen, die Tobias Zielony für „Manitoba“ zusammengesammelt hat, entsteht das Mosaik von einem Ort, der so wirkt wie die Fotos selbst: mal grell, mal düster, mal übermütig, mal anrührend, ein bisschen unscharf und grobkörnig, dafür oft brillant in den Farben und Kontrasten. Ganz zu fassen bekommt der Betrachter dieses „Manitoba“ nicht. Was wirklich ist, bleibt im Dunkeln.

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 5. Dezember 2011 im Feuilleton der Welt.

Bild: Tobias Zielony “Manitoba Brokenhead” at KOW Berlin by artfridge under Creative Commons

Der Fotograf Tobias Zielony begegnet Jugendlichen der amerikanischen Ureinwohner

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