Über 2-3 Straßen im Ruhrgebiet

Das Jahr 2010 war gerade ein paar Stunden alt, als sich auf einem Balkon in Mülheim an der Ruhr die Kunst entfaltete. Unten lag glitzernd die Stadt, links die Balkone des Nachbarhochhauses, rechts die Bahnlinie, der Blick ging diagonal zu den Schloten. Rot, gelb, grün wischte ihr Rauch in den Himmel. Der Horizont flirrte, als läge hinter Duisburg das Meer. Ein romantisches Panorama fast altmeisterlicher Perfektion. Doch keiner dachte hier an Caspar David Friedrich. Die Kunstgeschichte war von nun an Nebensache. Das eigentliche Kunstwerk waren in diesem Jahr die Menschen, die Menschen auf dem Balkon. Sie schrieben: „Wir sind sechs und es ist kalt. Es ist wohl der erste Eintrag überhaupt und wir haben der Welt Folgendes zu sagen.“

Mit diesen Worten begann am Neujahrstag 2010 das Kunstprojekt „2-3 Straßen“, für das der Konzeptkünstler Jochen Gerz achtundsiebzig Menschen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, der Slowakei, Marokko, Russland und Japan ins Ruhrgebiet geholt hatte. Ein Jahr lang sollten Sie zusammen mit ihren Nachbarn an einem gemeinschaftlichen Text schreiben. Im Essener Folkwang-Museum lief er über einen Monitor, und im kommenden März soll er als Buch erscheinen. Dafür wohnten die Autoren mietfrei in einer von drei für das Revier typischen Straßen: am Borsigplatz in Dortmund, in der Sankt-Johann-Straße in Duisburg-Hochfeld oder im Hochhaus am Hans-Böckler-Platz 7/9, der vertikalen Straße in Mülheim an der Ruhr. Die Straßen und ihre Bewohner waren die Ausstellung. Zu sehen gab es nicht viel, Spektakuläres schon gar nicht. Der soziale Prozess war das Kunstwerk. Die Straßen sollten sich mit dem Projekt verändern. Aber Jochen Gerz wollte hier keine Sozialarbeit leisten. Es ist der Blick, der sich wandeln sollte, nicht das Objekt. „Ich möchte, dass die Leute diese ,2-3 Straßen‘ mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der gleichen Intensität, mit der gleichen Geduld angucken, mit der sie Bilder von Caspar David Friedrich angucken“, sagt er.

Und so dreht sich in Mühlheim der Blick weg vom romantischen Panorama, hin zu den 222 frisch geweißten Balkonen des Doppelhochhauses am Hans-Böckler-Platz 7/9. In den siebziger Jahren als städtebauliches Prestigeprojekt mit Schwimmbad, Sauna und Solarium gebaut, wurde es wenig später Asylheim und verkam begleitet von zunehmendem baulichem Verfall zu einem Hort von Drogenmissbrauch und Kriminalität. Bis heute ist das zwanzigstöckige Hochhaus bekannt als ein Ort, an dem sich regelmäßig Verzweifelte in den Tod stürzen.

Beate Gottwald, die schon seit fünfzehn Jahren in einem Einzimmer-Apartment im neunzehnten Stock wohnt, hat drei solcher Todesstürze miterlebt. Einmal war es sogar ein Nachbar. Die sechzigjährige Friseurin gehört zu den alten Mietern, die selbst ein Teil von „2-3 Straßen“ geworden sind. Sie ist zum „Etagen-Klatsch“ vor den Aufzügen gekommen, sie hat Sätze für das Buch geschenkt, ihre Wohnung für Konzerte und Vernissagen geöffnet. Für das Projekt „Living in a Magazin“ hat sie von ihrer schwarzen Tochter erzählt, die zwischen Deutschland und Ghana eine eigene Identität sucht. Mit Ruedi, einem neunundsechzigjährigen Soziologen aus Zürich, hat sie sich richtig angefreundet. Ruedi hat zwischen Döner- und Pommesbuden Bioläden ausfindig gemacht und die „Grünen Seiten“ geschrieben, eine Art ökologischer Einkaufsführer für Mülheim an der Ruhr.

Die Vorstellung, dass solche Aktionen Kunst sind, dass sozial ausgeschlossene Menschen Autoren sein können, es überhaupt auf ihr Wort ankommt, ist nicht einfach zu vermitteln. Besonders den Bewohnern der „2-3 Straßen“ selbst. Das Bildungsniveau hier ist niedrig, und die meisten hatten bisher kaum Kontakt zu Kunst und Kultur. Aber Jochen Gerz ist optimistisch: „Die Menschen haben gelernt, Kunst anzugucken, jetzt müssen sie nur noch lernen, mit diesem Blick auch die Wirklichkeit anzugucken.“

Um diesen Prozess zu beschleunigen, gab es in „2-3 Straßen“ sogenannte „Besucherschulen“ wie die von Bazon Brock zur Documenta 4 vor vierzig Jahren. Neue und alte Mieter führten Gruppen durch das Viertel und erzählten die Geschichten der Bewohner. Die Ausstellungsbesucher sollten das Kunstwerk nicht nur betrachten, sondern selbst etwas in das „2-3-Staßen“-Buch schreiben. Am Borsigplatz in Dortmund sahen sie Dealer und die Pommesbude, wo der BVB gegründet wurde, schauten aber auch hinter die gepanzerten Türen der Mietskasernen, die in den zwanziger Jahren für die Arbeiter der Westfalenhütte errichtet wurden.

In den Treppenhäusern leuchten neben fast jeder Tür die quadratischen Farbtafeln der „Galerie der Nachbarn“. Getreu der Barnett-Newman-Frage „Wer hat Angst vor Rot, Gelb, Blau?“ hatte die Malerin Anna Wiesinger jeden Bewohner nach seiner Lieblingsfarbe gefragt und damit persönliche Farbtafeln für den Hausflur erstellt: die Farbwahl als erster Schritt der Selbstfindung auf dem Weg zur Autorschaft. Man kann die Bilder im Kontext der Farbfeldmalerei als abstrakte Porträts verstehen, die den standardisierten Blocks Individualität gaben. Für viele Mieter sind die zu Quadraten arrangierten Tafeln einfach schöne, bunte Familienbilder, die zeigen, wer hinter der Tür zu Hause ist. Die Bewohner sind zum Kunstwerk geworden, ohne es selbst zu wissen.

„Konsumenten werden zu Autoren“, würden Kulturwissenschaftler diese Verwandlung wohl nennen. Ein ganzes Team aus Professoren begleitet das Projekt wissenschaftlich. Die Universität Lüneburg überprüft die „urbanen Kreativitätsimpulse“ von „2-3 Straßen“ auf ihre Nachhaltigkeit, eine Mikrosoziologin der Universität Hamburg untersucht, wie durch die Text- und Bildproduktion eine „neue soziale Sichtbarkeit“ von sozialen Brennpunkten entstand. Eine Düsseldorfer Kunstwissenschaftlerin erforscht die „Erweiterung des Autorenverständnisses weit in die Steppen der Zuschauergesellschaft hinein“. Und doch war alles oft viel einfacher.

An einem heißen Tag im Juli versammelten sich die Mülheimer Nachbarn wieder auf Beate Gottwalds Balkon. Die tunesische Großfamilie grillte, der Schweizer Ruedi hatte Kräuter aus dem kollektiven Gemüsegarten mitgebracht. Vollkommen verstört trat Kevin auf den Balkon und zeigte in das sonnige Panorama. Der Duisburger Todestunnel von der Loveparade ist von hier nur knapp zehn Kilometer entfernt. Von oben konnte man das Gelände erahnen, auf dem noch immer Hunderttausende feierten. Aber die Nachbarn blickten lieber auf Kevin, der froh war, jetzt nicht allein zu sein.

Das waren die Momente, auf die es Jochen Gerz ankommt: „Die Leute sollen kapieren, dass die Wirklichkeit und Gesellschaft Zuwendung, unsere Zuneigung und Wärme braucht“, sagt er, „dann wird wahrscheinlich die Gesellschaft auch sympathischer.“

Kurz vor Weihnachten stehen die „2-3 Straßen“-Leute wieder auf dem Balkon im neunzehnten Stock. Eiszapfen hängen an der Markise. Am nächsten Tag werden viele wieder ausziehen, nur in Dortmund wollen einige bleiben. Sie haben der Wohnungsbaugesellschaft ein kreatives Versprechen gegeben und müssen im Gegenzug nur wenig Miete zahlen. Eine Gruppe will sich als „Sozialunternehmer“ selbständig machen, um die Projekte fortzuführen und Mikrokredite an die Nachbarn zu vergeben.

Am Horizont zittert die Luft. „Es ist, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“, schrieb Kleist über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. So ähnlich fühlt es sich an, wenn man die „2-3 Straßen“ einmal mit dem Blick von Jochen Gerz angeschaut hat. Man kann die Augen vor der Realität nicht mehr verschließen. Der Wind zerrt an der Markise. An nächsten Tag wird ein Schneesturm kommen.

 

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 30. Dezember 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Bild: „Spanish Pipedream“ by Matthew Powell under Creatice Commons License

In den Straßen des Ruhrgebiets hat Jochen Gerz eines der ungewöhnlichsten Kunstprojekte der letzten Zeit umgesetzt. Und neben der Umgebung auch die Menschen verwandelt

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