Über Simulation im Hartz-IV- Supermarkt

Wer das wahre Leben besichtigen will, muss nach Hamburg-Steilshoop kommen. Die Biker-Kneipe an der S-Bahn verkauft noch immer WM-Wurst, zwei Straßen weiter beginnt die Hochhaussiedlung mit ihren gestapelten Betonbalkonen. Zwischen „Auto Teile Unger“ und dem Hamburger Teppichdiscount hat die Hamburger Arbeitsagentur bauen lassen, was sie das „Real Life“ nennt: einen Supermarkt mit Lager, Verwaltung und fünf Gabelstaplern. In staatlichem Auftrag bringt das TÜV-Nord-Schulungszentrum hier Langzeitarbeitslosen bei, wie Arbeiten im Einzelhandel funktioniert. Abwechselnd spielen sie Kunden, Logistiker, Kassierer.Hier können sie einkaufen, wonach sie sonst selten im Supermarkt greifen: Barilla-Nudeln, einen Grand Vin de Bordeaux oder Whiskas Royal. Doch nicht alles fühlt sich echt an. Die Eier sind aus Plastik, der Käse sieht aus wie ein Stück Schwimmflügel, Obst und Gemüse gibt es nur auf Papier. Der Markt ist eine Simulation, die Währung Spielgeld. Nach dem Bezahlen wandern die Waren ins Lager und von dort zurück in den Markt. Ein geschlossenes kapitalistisches System auf zweitausend Quadratmetern.Donnerstags morgens um neun ist alles ruhig. Zwischen den Stellwänden im „Verwaltungstrakt“ sitzen Frauen auf ergonomischen Stühlen und starren auf Monitore. Manchmal tippen sie etwas, drucken es aus und bringen es in die Dekoabteilung. Dort bleibt es liegen. „Die Vollzeit-Beschäftigten haben Spätschicht“, sagt die Pressefrau. Die Arbeitslosen sollen sich an normale Arbeitszeiten gewöhnen. Morgens aufstehen, pünktlich die Stechuhr bedienen und nicht zu lange Mittagspause machen. 98 Hartz-IV-Empfänger hat die Hamburger Arbeitsagentur aktuell dem „Real Life Training“ in Steilshoop zugewiesen. Wer den vollen ALG-II-Satz behalten will, muss erscheinen. Sechs bis neun Monate lang, vierzig Stunden die Woche, auch samstags.Gegen zwölf ist Betrieb im Laden. Kunden legen Waren aufs Band, Verkäuferinnen stellen Dosen ins Regal, die Dekoabteilung arrangiert auf dem Saisontisch Deos. Eine Gruppe aus dem „Real Life Einkauf“ hat recherchiert, wie viel die Flasche „Grappa Tre Soli Tre“ von 1999 kostet, die der Chef spendiert hat, als sie leer war. 76 Euro steht jetzt auf dem Preisschild.

„Wir simulieren hier sehr detailliert und umfassend das wirkliche Leben“, sagt die Projektleiterin Ulrike Kögler, „die Teilnehmer können hier von der Pieke auf erkennen, wie ein Supermarkt, der Warenkreislauf, die Preisgestaltung und Werbung funktionieren. Sie sind dann bestens auf das echte Leben vorbereitet. Wir bringen ihnen mehr bei, als später am Markt gefragt ist.“Tatsächlich ist am Markt etwas ganz anderes gefragt. Ungelernte Helfer werden kaum noch eingestellt. Von den gut dreihundert Teilnehmern, die das „Real Life Training“ seit Oktober 2009 durchlaufen haben, konnten nur drei eine Anstellung als Lageristen finden. In diesem Job hatten sie auch schon vorher gearbeitet. Ob sie heute noch beschäftigt sind, sagt Kügler nicht. Das Hauptziel sei nicht die Vermittlung. Schließlich laufe das „Real Life Training“ bei der Arbeitsagentur offiziell als „Aktivierungs-Center“.Wie kommt es, dass der Staat manche Menschen weder vermitteln noch qualifizieren kann, sondern aktivieren muss? Mehr, als dass die meisten Teilnehmer keinen Schulabschluss haben und oft schon seit acht Jahren oder länger arbeitslos sind, wird nicht verraten. „Wir müssen da auch an die Teilnehmer denken“, sagt die zuständige Pressefrau, „wer liest schon gern über sich in der Zeitung, dass er Teil eines Projektes ist, in dem, überspitzt gesagt, nur Trinker und Psychowracks sitzen.“

Fragt man den leitenden Betreuer nach der psychischen Verfassung der Teilnehmer, steht dem Sozialpädagogen der Schweiß auf der Stirn. Tatsächlich seien viele der Teilnehmer depressiv. Sie hätten das Gefühl, von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden. „Wir versuchen, ihr Selbstwertgefühl wiederaufzubauen“, erklärt er.

Depressiv ist Yasmin Kermeci nicht. Aber seit die gelernte Friseurin vor fast zwölf Monaten für ihren neuen Partner nach Hamburg gezogen ist, hat sie weder eine Anstellung noch Bekannte gefunden. Das „Real Life“ hat sie aufgefangen. „Das ist wie eine Familie hier“, sagt die Sechsunddreißigjährige, „wir Frauen aus der Dekoabteilung passen aufeinander auf.“ Obwohl sie heute frei hat, ist Yasmin nach Steilshoop gekommen, eine Kollegin hat Geburtstag.

Ist das „Real Life“ ein staatlich finanzierter Schonraum für Langzeitarbeitslose? Der bislang hanseatisch unterkühlte Chef wird zornig: „Was soll das heißen, Schonraum? Wir zeigen den Leuten, wie die Welt draußen funktioniert. Hier wird keiner geschont.“ Die Pressefrau sagt: „Wir machen doch keine lustigen Ballspiele hier.“ Diesen Eindruck bekommt man allerdings, wenn man sieht, wie eine Frau hinter einer Theke steht und auf Kundschaft wartet. Oder ein Ausbilder rät, grundsätzlich die Eier zu prüfen, auch wenn es sich nur um Plastikeier handelt.

Natürlich kann man kritisieren, wie Arbeitslose hier infantilisiert werden. Man kann sich mokieren über den Zynismus eines Chefs, der die im Toskana-Urlaub geleerten Grappa-Flaschen seinen Arbeitslosen mitbringt, statt sie in den Container zu werfen. Man kann zu bedenken geben, dass der TÜV Nord das Projekt mit Hilfe einer Werbeagentur medienwirksam inszeniert und als unternehmerisch agierender Bildungsträger nicht nur Imagegewinne daraus zieht.

Doch das „Real Life Training“ ist leider noch mehr als eine besonders peppige Idee, um einen millionenschweren Auftrag der Arbeitsagentur zu bekommen. Mehr als eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Unvermittelbare oder Beschäftigungstherapie für psychisch kranke Langzeitarbeitslose. Der Kaufmannsladen in Hamburg-Steilshoop ist das, als was ihn die Projektleiterin arglos beschreibt: die Simulation von Leben. Versteht man Simulation im Sinne des französischen Philosophen Jean Baudrillard, begreift man, warum viele Teilnehmer das „Real Life Training“ als Segen erleben. Natürlich suggeriert der Übungssupermarkt Arbeitslosen, sie würden hier fürs Leben fitgemacht. Aber dieses Training für ein Leben danach ist nichts als ewige Vorbereitung auf einen Job, den es für viele niemals geben wird. Die Simulation von Leben wird das Leben selbst.

In dieser Hyperrealität, so Baudrillard, verwischen die Grenzen der Wahrnehmung. Realität und Fiktion sind nicht mehr zu unterscheiden. Völlig egal, dass Käse und Eier nicht echt sind – „hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein!“ Plastikeier und Slogans werden „reine Zeichen“, die Bilder der Wirklichkeit mächtiger als die bezeichnete Wirklichkeit selbst. Die Supermarkt-Simulation in Hamburg-Steilshoop erfüllt Menschen im Wartesaal der Gesellschaft, was sie sich am meisten wünschen: ihr echtes Leben gegen ein falsches tauschen. Vierzig Stunden die Woche, auch samstags.

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 5. Oktober 2010 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 Bild: „Regalgasse“ by Happy Meal under Creative Commons License

Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein: Im Hartz-IV-Supermarkt in Hambug-Steilshoop bereitet die Hamburger Arbeitsagentur Langzeitarbeitslose auf das wahre Leben vor. Leider gefällt es ihnen im simulierten viel besser

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