Über arbeitslose Akademiker*innen

Eigentlich hätte Anna feiern müssen. Da hielt sie endlich ihr Abschlusszeugnis in der Hand, nach all den Prüfungen und dem langen Schreiben an ihrer Abschlussarbeit über Pierre Bourdieu und die feministische Kunst. Ein Magister in Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität, überall beste Noten. Eigentlich hätte sie eine Flasche Champagner öffnen müssen und dann tanzen gehen. Doch stattdessen fuhr Anna ins Jobcenter Berlin-Pankow. Das Zeugnis noch in der Tasche, füllte sie Dutzende Formulare aus und reihte sich ein in die Schlange: Hartz IV. An Champagner war nicht zu denken.

Oft heißt es, Hochschulabsolventen seien die Gewinner der Gesellschaft. Die Rate der Arbeitslosen unter ihnen ist geringer als in jeder anderen Bildungsschicht. Knapp 78 Prozent der Geisteswissenschaftler aber finden wie Anna Günther (Name geändert ) nach dem Abschluss nicht sofort einen regulären Job , zeigt eine Studie des HIS-Instituts für Hochschulforschung. Und auch ein Jahr nach dem Abschluss geht nur die Hälfte von ihnen einer regulären Beschäftigung nach. Selbst nach fünf Jahren liegt die Quote der abhängig Beschäftigten nur bei 70 Prozent. Bei den Absolventen der Ingenieurwissenschaften haben hingegen 90 Prozent schon nach zwei Jahren einen festen Arbeitsvertrag.

Auch Marcel Faska, 27, hatte sich seine Zukunft anders vorgestellt. Mit besten Noten, mit Praktika in der Entwicklungszusammenarbeit und Auslandsaufenthalten in Tschechien, Madagaskar und Südafrika betrat der Diplomsozialwissenschaftler aus Göttingen das Jobcenter Hannover. Sein Sachbearbeiter verordnete ihm erst einmal ein dreimonatiges Bewerbungstraining, in dem er lernen sollte, »maschinengeschriebene Bewerbungen ohne Kaffeeflecken« zu erstellen. Der Tiefpunkt kam für Faska während eines Praktikums im Bundestag. »Wenn man in der Kantine all diese Gleichaltrigen mit ihren gut bezahlten Jobs sieht, fragt man sich natürlich: Warum die und nicht ich?«, erzählt er. Damals sei er nahe daran gewesen, einfach aufzugeben.

Anna Günther sagt, sie verdanke Hartz IV ihre ersten grauen Haare. 359 Euro plus Mietzuschuss standen ihr nun zu. »Das Gefühl, so nah an der Armut zu sein, war erschreckend«, sagt sie. »Ich hatte große Angst, nie mehr da rauszukommen.« Schlafen konnte sie kaum noch. Stattdessen quälten sie Existenzängste und Selbstzweifel. Natürlich versuchte sie, der Auflage ihres Sachbearbeiters nachzukommen, mindestens 16 Bewerbungen im Monat zu schreiben. Sie wollte ja raus aus dieser Misere! Doch so viele Stellen waren für Geisteswissenschaftler gar nicht ausgeschrieben. Weder ihr Abschluss noch ein dazu passendes Berufsbild waren in der Datenbank der Agentur für Arbeit überhaupt vorgesehen.

Oft heißt es, die Jungakademiker seinen die Gewinner der Gesellschaft – im Gegensatz zu all den Gerinqualifizierten, die ihr Leben lang um ihre Arbeit bangen müssen. Ein paar Monate Warten auf den ersten Job für die späteren Gutverdiener seien dagegen ja wohl noch zumutbar. Und tatsächlich: Die Zahlen belegen, dass langfristig die Arbeitslosigkeit selbst unter Geisteswissenschaftlern unter fünf Prozent rutscht. Doch denen, die nach dem Studium das Gefühl haben, dass keiner sie braucht, dass keiner sie will, hilft sie wenig, diese statistische Erkenntnis. »Schon wenn sich die Sucharbeitslosigkeit über ein halbes Jahr oder länger hinzieht, treten erste psychische Probleme auf«, sagt Karsten Paul, Arbeitspsychologe an der Universität Erlangen. Er hat die negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die mentale Gesundheit der Betroffenen untersucht. Das Ergebnis ist erschreckend. 34 Prozent der Arbeitslosen leiden unter klinisch relevanten psychischen Störungen, unter Erwerbstätigen zeigen nur 16 Prozent diese Symptome.

Niederschmetternd auch die »Drohbriefe«, wie Anna sie nennt. Ihre Wohnung sei zu groß, sie müsse umziehen. Der Handyvertrag sei zu teuer, sie müsse kündigen. Ihr Zuverdienst bei der Anwaltskanzlei sei zu hoch, bis auf 100 Euro müsse sie alles abgeben. Dazu kam der ständige Verzicht. Kein Kino mehr, kein Theater, keine neuen Kleider. Ihr lag nicht so viel an den Dingen an sich, aber sie wollte teilhaben an dem Leben, das ihre Freundinnen führten. Doch selbst beim Mittagessen mit ihnen, das sie sich vom Mund absparte, begegneten ihr nur Mitleid oder Verständnislosigkeit. Viele ihrer Bekannten wollten schlicht nicht mit einem Problem konfrontiert werden, das sie selbst fürchteten oder dem sie gerade noch entgangen waren. Hartz IV machte ihnen Angst.

Andrea Wachner ging es da besser, obwohl auch sie unter ihrer Arbeitslosigkeit litt. Nach ihrer Ausbildung zur Steuerfachangestellten hatte es die 30-Jährige noch einmal wissen wollen; sie studierte Spanisch, Französisch und Englisch. Neben ihren Magistersprachen beherrscht sie auch Niederländisch fließend. Zusammen mit ihren kaufmännischen Kenntnissen erhoffte sie sich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Doch dann kam die Finanzkrise. Wachner beantragte Hartz IV.

Die Jobsuche ging sie generalstabsmäßig an. Knapp hundert Bewerbungen hat sie innerhalb eines Jahres geschrieben, alles säuberlich dokumentiert in Excel-Dateien und Aktenordnern. Sogar eine Zeitungsanzeige hat Wachner aufgegeben. Darauf meldeten sich eine Drückerkolonne, eine Zeitarbeitsfirma und ein junger Ingenieur, selbst arbeitssuchend, der Bewerbungstipps von ihr haben wollte. Immerhin, der hatte ein paar Wochen später einen Job.

Wachner hingegen zog weiter von Bewerbungsgespräch zu Bewerbungsgespräch – oft ohne die Kosten erstattet zu bekommen. Die meisten Arbeitgeber reagierten skeptisch auf ihren »gebrochenen Lebenslauf«. Wie Anna Günther hatte Wachner mit Existenzängsten zu kämpfen, mit dem Gefühl, am Abgrund zu stehen, gescheitert und wertlos zu sein. Und trotzdem sagt sie: »Hartz IV war nicht meine schwerste Krise.« Vor ein paar Jahren hatte sie einen schweren Autounfall, bei dem sie fast ums Leben gekommen wäre. Damals hat ihre Kirchengemeinde sie aufgefangen. So war es auch bei Hartz IV. »Mein soziales Umfeld ist mir wichtiger als ein toller Job«, sagt sie. Deshalb war sie nach einjähriger Suche auch mit einer Halbtagsstelle als Sekretärin zufrieden. Heute sitzt Wachner in einem schicken Büro auf dem naturwissenschaftlichen Campus der Goethe-Universität und genießt den Blick auf die Frankfurter Skyline.

Aber woher kommt das Problem überhaupt? »Geisteswissenschaftler überlegen sich häufig erst nach dem Abschluss, welche berufliche Laufbahn für sie infrage kommt«, sagt Kolja Briedis, der die Absolventenstudie am HIS-Institut durchgeführt hat. »Außerdem haben sie während des Studiums selten Praktika gemacht, die sie jetzt als Türöffner nutzen könnten.« Hinzu komme, dass es für Geisteswissenschaftler auch einfach weniger Stellen gebe und der Arbeitsmarkt sehr viel weniger strukturiert sei. »Kein Unternehmen sucht explizit nach einer Philosophin.« Aus dieser Mischung eigener Versäumnisse und enttäuschter Erwartungen folgt ein starker psychischer Druck. »Die Absolventen fürchten die Lücke im Lebenslauf, die durch die Arbeitslosigkeit entsteht«, sagt Kolja Briedis. Dabei sei eine berufliche Orientierungsphase nach dem Studium nichts Ungewöhnliches. Doch für die Betroffenen ist das ein geringer Trost.

Ein Jahr lang kämpfte Anna Günther mit diesen Gefühlen, bis sie einen Job bei einem Verband in Hannover fand – vermittelt über eigene Kontakte, nicht vom Jobcenter. Die Arbeitsagentur stand ihr bei der Suche eher im Weg. Auch der Sozialwissenschaftler hat nach einem Jahr, 60 Bewerbungen, drei Vorstellungsgesprächen und einem Praktikum einen Job gefunden. Zwar nicht im Bereich Entwicklungshilfe, dafür im Wissenschaftsministerium in Hannover. Die Zusage kam gerade zum richtigen Zeitpunkt: »Länger hätte ich dieses dauernde Auf und Ab zwischen Hoffnung und Resignation nicht mehr ertragen.«

Doch auch wenn die Jobsuche für die meisten Geisteswissenschaftler gut ausgeht: Existenzielle Krisen, wie Faska, Wachner und Günther sie erlebt haben, prägen fürs Leben. Man könnte sogar sagen: Die Arbeitslosigkeit ist die erste und einzige gemeinsame Erfahrung einer ganzen Absolventengeneration von Geisteswissenschaftlern. Und indem sie die späteren Veränderer der Gesellschaft verändert, wird aus einem individuell-psychischen Problem eines für alle.

Der Arbeitspsychologe Paul sieht seine Zahlen sogar als Beleg, dass Arbeitslosigkeit einer ernste Gefahr für die Gesundheit der der Bevölkerung eines Landes darstellt. So weit muss man nicht unbedingt gehen. Bedenklich jedoch ist, dass die künftige intellektuelle Elite unseres Landes aus einer Generation verunsicherter Geisteswissenschaftler besteht, der die Angst vor dem sozialen Abstieg tief in den Knochen sitzt.

 

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 21. Januar 2011 im Chancen-Teil von DIE ZEIT.

Bild: „Eröffnung der Hörsäle im Klinikum rechts der Isar“ by digital cat under Creative Commons License

Viele Geisteswissenschaftler beenden ihr Studium mit dem Antrag auf Hartz IV. Was macht das eigentlich mit ihnen?

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