Being Neo Rauch

Was dachte Neo Rauch, als er seine erste Industrie-Brache malte? Was Georg Baselitz, als er seine Gemälde auf den Kopf stellte? Was Jörg Immendorf, als er den Kanzler vergoldete? Hermeneutisches Zirkeln und Kritiker-Geschwafel bringt hier rein gar nichts. Nur große Verwirrung auf der Meta-Ebene. Ich will endlich Klarheit. Ich will Neo Rauch ins Gehirn schauen. Dank neuster Entwicklungen in der Hirnforschung ist das heute kein Problem mehr. Genau wie Neo lasse ich mich an die Brainpainting-Maschine anschließen, die der Künstler Adi Hoesle für den ALS-kranken Jörg Immendorf erfunden hat. Weil dieser im Endstadium der Krankheit keinen Pinsel mehr rühren konnte, sollte die Maschine Immendorfs künstlerische Vorstellungen direkt vom Hirn auf die Leinwand projizieren. Ein Overheadprojektor für Visionen. Leider ist Immendorf gestorben, bevor die Maschine fertig war. Adi Hoesle testet Brainpainting jetzt mit Neo. Und mit mir.

Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Würzburg stülpt mir eine lächerliche Kappe über, er spritzt Elektroden-Gel auf meine Kopfhaut und schließt acht feine Kabel an die Kontaktstellen an. Meine Synapsen hängen jetzt an denselben Drähten, an denen Neos hingen. Ich erschaudere. Neben mir erscheint der Erfinder mit wildem weißen Haupthaar. Ist das schon eine Vision, oder sieht Adi Hoesle wirklich aus wie der fürchterliche Erfinder C. A. Rotwang aus Metropolis? Ich jedenfalls fühle mich wie eine von Menschenhand geschaffene Künstlermaschine, programmiert auf „Neo Rauch“.

Auf dem Monitor beginnen meine Hirnströme zu zittern. Ein wildes Zucken unkoordinierter Gedanken. An der Form meines celebralen Hintergrundrauschens erkennt Hoesle, welche Hirnseite bei mir dominant ist, ob ich ein visueller oder ein rationaler Typ bin, also als Künstlermaschine überhaupt tauge. „Sie sind wohl eher Denker als Künstler“, sagt Hoesle monoton. Nicht gerade beste Voraussetzungen für genialische Ergüsse, aber für Neos künstlerische Kopfgeburten vielleicht gar nicht so übel. Jetzt muss ich lernen meine P300 zu kontrollieren. „Die P300 ist ein elektrischer positiver Ausschlag, der etwa 300 Millisekunden nach Präsentation eines Stimulus auftritt, wenn bei gleichförmigen Hintergrundreizen seltene Zielreize eingestreut werden, auf die der Künstler seine Aufmerksamkeit lenken soll“, hat mir die betreuende Professorin im Vorgespräch erklärt.

Auf mir lastet ein gewaltiger Druck, denn die P300 „repräsentiert im weitesten Sinne die Geschwindigkeit kognitiver Verarbeitungsprozesse“, also meine Denkgeschwindigkeit und Konzentration. Ich ziehe die Stirn zusammen und fixiere den Monitor. Meine P300 schlägt aus! Ich bin stolz. „Nicht schlimm. Versuchen Sie es noch einmal“, sagt Hoesle. Was soll das heißen? Das war eine Spitzenleistung! Zu wenig Konzentration? Das wollen wir doch mal sehen! Da, wieder eine reine, wunderbare P300. Nur, jetzt sehe ich es auch: Meine P300 ist negativ, sie schlägt in die falsche Richtung aus. Nach 10 Minuten lehne ich mich erschöpft zurück. Der Vergleich mit Neos P300 ist niederschmetternd. Er: unglaubliche 100 Prozent Aufmerksamkeit. Ich: schwankend zwischen 60 und 70, Tendenz fallend. Damit es überhaupt weitergehen kann, wird meine P300 künstlich verdoppelt und die Brainpainting-Maschine umgepolt. Ob ich jetzt Neo à la Baselitz male? Oder russische Industriebrachen, statt ostdeutsche? Wir werden sehen.

Auf dem Monitor erscheint eine Matrix mit Farben, Formen, Pinselgrößen und Pfeilen, mit denen ich den Cursor auf einer digitalen Leinwand bewegen kann. Immer, wenn auf der Matrix das gewünschte Feld aufblinkt, muss ich die P300 auslösen. Die Maschine liest dann gleichsam meinen Willen. Ich fange mit dem Hintergrund an. Nach sieben Minuten konzentriertem Imaginieren leuchtet meine Leinwand in wunderbarem Ultramarin-Blau. Das kann Neo nicht gewesen sein. Neo hätte mit Schwarz, bei guter Laune vielleicht mit Dunkelblau angefangen.

Ich muss an Sigmar Polke denken. Der behauptet ja gern, höhere Mächte würden ihm befehlen, welche Ecken er wie anmalen solle. Bei mir muss es ähnlich sein. Gegen höhere Mächte kann sogar Neo nichts ausrichten. Plötzlich piept es. Sigmar Polke hat meine P300 durcheinander gebracht, meine Hirnströme zittern unkoordiniert über den Monitor. Der wissenschaftliche Mitarbeiter greift ein: „Brauchen Sie eine Pause? Wollen Sie was trinken? Soll ich Ihnen ein Brötchen holen?“ Nein, danke! Ich bin Neo, ich mache keine Pause.

Zielgerichtet wie nie löse ich eine P300 nach der anderen aus. Meine Gedanken wandern über die Leinwand, als wäre sie der Frontallappen meines Gehirns. Wunderbar! Ich werfe einen schwarzen Punkt hierhin, eine rote Linie dorthin, Farben, Formen, Muster wirbeln nur so durcheinander. Jetzt verstehe ich, was Adi Hoesle meint, wenn er sagt: „Kunst ist ein Neuronenfeuer.“ Langsam fühle ich mich eins mit der Maschine. Ich versinke in einem Zustand tiefster innerer Zufriedenheit. Mein Hirn ist ganz Farbe, ganz Form. Die reale Welt um mich verschwindet. Ich fühle mich geborgen wie in einer alten Baumwollspinnerei. Figuren aus der Vergangenheit tauchen auf. Ein Büromensch watet bedächtig durch einen Tümpel, Wellen klatschen an seinen Aktenkoffer. Eine nackte Frau steigt aus dem Schilf und trocknet sich die Wade. Es ist kalt. Langsam gleitet ein Stacheldrahtzaun durchs Bild. Wulste roter und weißer Acrylfarbe gleiten an ihm herab. Im Hintergrund dräuen sozialistische Wohnblocks vor blutrotem Himmel. Plötzlich: Türkis statt Schwarz. Türkis statt Rot. Türkis, Türkis, Türkis. Irgendetwas stimmt nicht. Mein Mund wird trocken. Ich versuche mich zusammen zu reißen. Ich stelle mir Neos eisblaue Augen vor, zwei Schlitze geballter Willenskraft und Konzentration. Die Matrix blinkt wieder. Ich fixiere Pinselstärke 12. Die Maschine stellt auf 4. Verdammt! Beherrsche ich die Maschine, oder beherrscht die Maschine mich? Mein Magen knurrt. Vier Stunden bin ich jetzt schon Neo Rauch. Der Meister scheint wohl nie zu essen. Noch einmal imaginiere ich die dunkle Pfütze auf dem Sandplatz. Irgendetwas tropft da rein. Blut? Öl? Die Matrix beginnt zu flimmern, alles verschwimmt vor meinen Augen. Die Frau aus dem Schilf ist plötzlich blond und lächelt. Sie sieht aus wie Marilyn Monroe. Mein Geist ermattet, ein letztes Mal zuckt der Frontallappen. Neo hat mein Hirn verlassen.

Erschöpft ziehe ich die Drähte von meiner Kopfhaut. Während ich mich in den Sessel fallen lasse, schließt Hoesle die Maschine an einen Beamer an. An der Wand erscheint die digitale Leinwand: Ein schräger roter Strich und eine Reihe verschieden großer schwarzer Flecken auf leuchtend ultramarinblauem Grund. Der Raum erstarrt in Stille. Mir ist Miros „Blue II“ aus dem Gehirn geflossen. Die Brainpainting-Maschine hat sich wohl im Programm geirrt. Statt „Neo“ hat sie „Miro“ geladen. Die geringfügigen Unstimmigkeiten mit dem Original sind sicher auf meine miserable Konzentrationsfähigkeit zurückzuführen, denke ich. Oder ist das etwa meine ureigne künstlerische Inspiration? Ja, das muss es sein! Ich bin erleichtert. Wenigstens einen kleinen Funken ICH konnte ich der Maschine aufdrücken. Das ist der Sieg des Menschen über die Maschine: Drei türkisfarbene Flecken auf einem Kunstwerk von Miro.

 

(C) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 08. Mai 2010 in der Feuilleton-Beilage Bilder und Zeiten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Selbstversuch: Ich will Neo Rauch ins Gehirn schauen und teste eine Brainpainting-Maschine

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