In Ewigkeit Atmen

In DAS MAGAZIN No 34, August 2022

Die Pandemie geht in ihren dritten Herbst und ich atme mich in die Schwerelosigkeit. Durch die geöffneten Fenster scheint die Sonne, der Wind bläht die Vorhänge auf, Blätterschatten tanzen über den grauen Terrazzoboden. Mein Brustkorb hebt und senkt sich in Wellen, wummernde Bässe geben den Rhythmus vor, darüber haucht eine Stimme aus dem Computer: „Bist Du bereit, alle Widerstände loszulassen?“ Die Atemlehrerin auf dem Bildschirm zeigt nackte Schultern, ihr Oberkörper pulsiert vor und zurück. In den briefmarkengrossen Kästchen sehe ich junge Menschen aus aller Welt. Dünne Mädchen in Leoprinthosen neben schnurrbärtigen Männer, die ihre Adidas-Socken fast bis in die Kniekehlen hochziehen. Figuren, die man sonst im Berghain trifft, dem Berliner Techno-Club. Synchron beschleunigen wir das Tempo. Wir atmen, als hätten wir nie etwas vom Virus, von Aerosolen und Beta, Gamma, Delta gehört. Nach zwei Stunden kontrolliertem Hyperventilieren fühle ich mich klirrend high und an der Grenze zur Ohnmacht. Wohliges nicht-mehr-aufwachen-Wollen, dann klappe ich den Computer zu.

Was heute „Psychedelic Breath“ heisst, geht auf Jahrtausende alte Atemtechniken zurück. So erklärt es uns die Atemlehrerin aus dem Computer. Trotzdem hat sich die ehemalige Werbestrategin das rhythmische Atmen zu elektronischer Musik markenrechtlich schützen lassen. Atmen erlebt weltweit eine erstaunliche Renaissance: Hillary Clinton setzte „breathwork“ im Wahlkampf ein, um vor Reden ihre Nervosität herunterzuregeln. Der Autor James Nestor landete mit dem Sachbuch „Atem“ einen internationalen Bestseller. Auf Festivals wie dem “Burning Man” in der Wüste von Nevada atmen 4.000 Leute gemeinsam zu Techno-Beats. 

Dass der bewusste Atem, wie ihn heute auch Manager:innen praktizieren, nicht nur ein Import aus Fernost ist –  wo sich in buddhistischen und vedischen Schriften schon vor mehr als 2400 Jahren Anweisungen über die Kontrolle des Atems finden – sondern noch einen zweiten Ursprung im Berlin der 1920er Jahre hat, weiss jedoch kaum jemand. Dabei führte die Atempionierin Elsa Gindler in ihrer „Schule für harmonische Gymnastik“ in dem Berliner Bezirk Schöneberg schon vor knapp hundert Jahren ganz ähnliche Übungen durch wie ich ein paar U-Bahn Stationen weiter und 100 Jahre später. Das Arbeiterkind Elsa soll sich auf dem Dachboden einer Berliner Mietskaserne Atem- und Körperübungen selbst beigebracht und so von der Tuberkulose geheilt haben. 

Gindlers Schülerinnen und die wenigen Schüler hörten keinen Techno beim Atmen, sondern (wenn überhaupt) Klaviermusik, sie trugen Badeanzüge und Bubikopf statt Leoprinthosen und Schnurrbart. Aber genau wie viele junge Menschen heute lebten die Aktivistinnen der Lebensreform- und Wandervogelbewegung meist vegetarisch, sie liebten die Natur und wenn sie mit ihrer Lehrerin atmeten, fühlten sie sich genauso frei wie wir heute in unseren Zoom-Kästchen auf dem Computerbildschirm. Noch hatten die Berliner Atempionierinnen keinen Namen für ihre Experimente. Aber dann nahm eine von ihnen „die Arbeit“, wie sie es nannte, mit auf ihrer Flucht vor den Nazis nach New York und machte daraus eine „Praxis fürs Leben“: Charlotte Selver, jüdische Gymnastiklehrerin, charismatische Geschäftsfrau und erster weiblicher Guru der Achtsamkeits-Bewegung im Westen.

Das erste Mal begegnete ich Charlotte, ohne es zu merken, als 26-jährige Studentin in Berlin. Damals besuchte ich einen achtwöchigen Kurs in Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Eine Entspannungstechnik, die Prüfungsstress dämpfen soll. In einer Physiotherapie-Praxis sassen wir auf Kissen und atmeten. Wir spürten unsere Körper, wir meditierten über den Atem, wir bewegten uns so rentnerartig langsam, dass mein Geist im Viereck sprang. Doch nun hatte ich etwas in der Hand gegen die Panikattacken. Auch die sich damals einschleichende Depression hoffte ich mit dem bewussten Atem lindern zu können. Ich las alles, was ich vom amerikanischen MBSR-Erfinder Jon Kabat-Zinn in die Hände bekam. Er empfahl das Buch „Der Geruch von frisch geschnittenem Gras“ von Thich Nhat Hanh, dem vietnamesischen Zen-Meister, der die Achtsamkeitspraxis in den 1960er Jahren in den Westen brachte. Die darin beschriebenen Atemmeditationen sind so einfach, dass jede und jeder sie gleich versteht und ausprobieren kann. Und sie sind so effektiv, dass ich mich dank ihnen in der Welt wieder zurecht fand. 

1979 entwickelte der Molekularbiologe Kabat-Zinn daraus ein strukturiertes, klinisch getestetes Programm, das bis heute in psychosomatischen Kliniken und zur begleitenden Schmerztherapie eingesetzt wird. In seinen Büchern bezieht Kabat-Zinn sich auf Zen-Priester, Mönche und andere weise Männer. Aber ohne Charlotte Selver wäre Zen in den USA sicher eine rein geistige Übung geblieben. 

Wer war Charlotte Selver? Alan Watts, der britischen Religionsphilosoph und Zen-Entertainer der amerikanischen Hippie-Bewegung, nannte Charlotte “das lebendige Zen”. Jahrzehntelang gaben die beiden Workshops auf Watts Hausboot oder in Charlottes New Yorker Studio. Aber auch Wissenschaftler der New School for Social Research in New York interessierten sich für Selver,  “Wunder des Organismus“ hiess einer der Kurse, den sie dort anbot. Für den Psychoanalytiker Erich Fromm, der selbst wöchentlich Privatstunden bei Charlotte Selver nahm, war deren Methode die wichtigste Schule, um zu lernen, „das Ich als Zentrum aller Kraft zu spüren“. Auf der wegweisenden Konferenz „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ 1957 in Mexiko hielt Selver einen Vortrag über Körperarbeit. Und der Psychotherapeut Fritz Perls nahm viele Elemente aus Selvers Unterricht in die von ihm begründete Gestalttherapie auf. Auch wenn er seine Lehrerin in seinem Grundlagenwerk „Was ist Gestalttherapie“ nirgends erwähnt. Kein Wunder, dass heute nur Insider Charlotte Selver kennen. Weibliche Traditionslinien zu offenbaren, passt nicht in die noch immer verbreitete Geschichtsvorstellung „grosse Männer tun grosse Dinge und formen die Welt“. 

Der Amazon-Bote bringt einen Stapel Bücher in mein Berliner Studio, in dem ich Yoga und Meditation unterrichte. Ich blättere in Kirk Varnedoes „A Fine Disregard“, in dem der Kunsthistoriker und ehemalige Chefkurator des MoMA die Entwicklung der Moderne als Bumerang-Bewegung beschreibt. Kulturaustausch sei eine Art Import/Export, der so vor sich gehe, „dass man eine Tradition in die Fremde hinausschickt, die zu Hause vielleicht schon in Vergessenheit geraten ist und nicht mehr recht geschätzt wird und die dann zu einem zurückkommt – ein bisschen missverstanden zwar, aber wiederbelebt und fruchtbar (man lässt zum Beispiel ein paar alte 45-rpm-Platten mit Rhythm and Blues von Muddy Waters, John Lee Hooker und Bo Diddley hinausgehen, und bekommt ein paar Jahre später Mick Jagger und John Lennon zurück).“ 

Was für die Popmusik gilt, gilt auch für die psychotherapeutische Körperarbeit: Von den Nazis aus Europa vertrieben, flohen der Psychoanalytiker Erich Fromm, sowie die Freud-Schüler Wilhelm Reich, Otto Rank und ihre Anhänger nach New York. Dort nahmen einige von ihnen Unterricht bei einer gewissen Charlotte Selver und ihrer Freundin Carola Spitz. Im Gras der aufkeimenden Zen-Bewegung atmen sie ein paar Jahre den Cannabis-Duft der Blumenkinder ein und heraus kommt die körperbasierte Psychotherapie. Zeitgleich mit der sexuellen Revolution beginnt das therapeutische Zeitalter: Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, Rolfing, Bioenergetik, Urschreitherapie – alle beeinflusst von den Atem- und Körperexperimenten der Berliner Atemschule – breiten sich in den USA aus. In den 1980ern fliegt der Bumerang dann zurück nach Deutschland, wo ihn die friedensbewegten Nachkriegskinder dankbar auffangen. An ihren Eltern haben sie gesehen: Schuldgefühle und Generationenkonflikte bleiben in Kopf und Psyche, wenn wir sie nicht aus den Knochen, Muskeln und der Magengrube schütteln. Ironischerweise erweisen sich die Methoden von Jüdinnnen und Jude, die von eben jener Eltern- und Grosselterngeneration aus Deutschland vertrieben wurden, dabei als besonders wirksam. 

In Berlin unterrichten heute zwar nur eine Handvoll Lehrer:innnen „Sensory Awareness“, wie Charlotte Selver ihre Methode taufte. Aber wenn meine Freundinnen und ich heute zu ausgebuchten Ecstatic Dance Parties, zu 5Rhythmen, Grinberg, Gaga oder Breathwork Sessions pilgern und dort Trancezustände und manchmal emotionale Durchbrüche erleben, atmen wir denselben Geist, den Charlotte Selver vor neunzig Jahren von Berlin nach New York exportierte. 

„Erleben durch die Sinne“, heisst das erstmals 1974 erschienene Lehrbuch ganz oben auf meinem Bücherstapel. Charlotte Selvers Mann, Charles Brooks, hat es geschrieben. Er fasst die Experimente seiner Frau in verträumt-poetische Worte. Sich atmen lassen. Die eigene Statur finden. In Verbindung zu sich selbst und zu anderen gehen. 

Auf meinem Terrazzoboden probiere ich alles aus. „Diese Art zu unterrichten war anders als alles, was ich kannte“, berichtet Charles Brooks im Buch über seinen ersten Besuch bei der Atemlehrerin Charlotte Selver. Sie spricht. Andauernd. „Sie stellte merkwürdige Fragen, auf die sie offensichtlich keine Antwort wollte“, erinnert sich Brooks. Die Schüler liebten es, wenn sie mit ihrer tiefen, merkwürdig kratzigen Stimme Weisheiten von sich gab. Viel zu laut, in ihrem holprigem Englisch mit kopfsteinhartem deutschen Akzent. Opernsängerinnen, Schauspieler, Filmemacherinnen kommen in das Studio nahe der Carnegie Hall. Der Schriftsteller Truman Capote atmet mit Charlotte Selver, auch der Dirigent Otto Klemperer. Aber was genau lernen sie bei ihr?

Ich erinnere mich an meinen Klarinettenlehrer, dessen Meisterschüler im landesweiten Musikwettbewerb „Jugend musiziert“ krachend durchfielen, in Kölner Jazzclubs aber standing ovations bekamen. Mich, die asthmatische Zwölfjährige, gedrillt mit dem Lehrbuch “Die russischen Klavierschule”, konnte er mit Jazz-Tonleitern nicht locken. Erst recht nicht in die unsicheren Gefilde der Improvisation. Aber er liess mich atmen und so lange um die eigene Achse kreisen, bis ich mich im Lot fühlte. „Vergiss alles, was Du jemals gelernt hast und spiel einfach den Ton, den Du gerade fühlst.“ Was dann aus mir und meiner Klarinette heraus quoll, klang so ähnlich wie „House Of The Rising Sun“, fühlte sich aber an wie ein warmer, roter Lavastrom. Die Methode meines Lehrers heisst Feldenkrais. Und das intuitive Neulernen von Bewegungen, wie der Israeli Moshé Feldenkrais es erfunden hat, ist eng mit Charlotte Selvers achtsamem Atmen und Spüren verwandt.

Über Zoom besuche ich Selvers langjährigen Assistenten Stefan Laeng in seinem Studio in Peterborough, New Hampshire. Der gebürtige Schweizer erzählt, was er in unzähligen Stunden von Interviews und hingebungsvoller Quellenarbeit über seine Lehrerin gesammelt hat. Das Material reicht für drei Biografien. „Sie hat ja alles penibel notiert“, sagt er und zeigt auf das Regal schwarzer Ordner hinter sich. Als hätte sie gewusst, dass sich die Nachwelt einmal für jeden ihrer Atemzüge interessieren werden. Selvers offizielles Archiv bewahrt die Universität von Santa Barbara auf.

Ein Foto hat sich mir eingeprägt: Charlotte Selver strahlend im Schneidersitz auf einer roten Decke im Gras. Das weisse Marilyn-Kleid betont ihre aufrechte Haltung, die starken Arme. Der blaue Gürtel genau da, wo sie vielleicht später den Schülern das Zwerchfell zeigen wird. Das Bild der Atemlehrerin auf der Höhe ihres Erfolgs ist verwischt, fast wie gemalt, als hätte es jemand zu schnell aus dem Entwicklerbad gezogen oder einen van Gogh-Instagram-Filter drübergelegt. Doch ich kann mir genau vorstellen, wie sie in den vierziger Jahren auf Loftparties in Greenwich Village tanzte, in den fünfziger Jahren allein durch Kalifornien reiste und mit Mitte sechzig ihren ersten LSD-Trip erlebte. Es gibt ganz ähnliche Fotos von mir beim Unterrichten, auf Berliner Parties und auf abenteuerlichen Reisen zu spirituellen Orten, die ich ebenfalls am liebsten allein unternehme. 

Kaum vorstellen kann ich mir, wie es für Charlotte Selver war, als sie 1938 in New York landete, nur denkbar knapp den Nazis entkommen, kein Wort Englisch auf den Lippen, aber die Holzkeulen für den Gymnastikunterricht im Gepäck. Mit 37 Jahren begann für die Grossbürgertochter ein Leben, das Hollywood als den „American Dream of Mindfulness“ verfilmen könnte: Die verwöhnte Fabrikanten-Erbin fing als Hausmädchen und Fussmasseurin alternder Millionärinnen an.

Aber Selver, die schon mit Ende Zwanzig eine florierende Gymnastikschule geführt und an der Leipziger Uni gelehrt hatte, wusste, was sie konnte. Zusammen mit ihrer ebenfalls aus Berlin geflohenen Atemfreundin Carola Spitz mietete sie ein Studio nahe der Carnegie Hall in Manhattan. Im Angebot: Atmen gegen Angst, Stress und die berüchtigte New Yorker Abgas-Lunge. Aber die Manhattaner Ladies wollten lieber abnehmen. Allein der Name „die Arbeit“ klang wie die passende Tortur zum „German look“, der den deutschen Emigranten ins Gesicht geschrieben war. Blass, schwer und von Sorgen zermartert. Kein Wunder: Charlotte Selver konnte ihre Eltern nachholen, aber Carolas Spitz Bruder und ihre Mutter Paula wurden in Auschwitz ermordet. Da war es nicht einfach, geschmeidig aufzutreten, immer lächelnd, in Plauderlaune und mit schlanker Taille.

Ob Charlotte Selver das Atmen damals half? Ihr Assistent erzählte mir, dass sie sich in Berlin die Eifersucht auf die Liebeleien ihres Ex-Manns von der Seele atmete und auch die Furcht vor der auf der Strasse patrouillierenden SA. Aber kann man solche Angst wirklich „wegatmen“? Wenn Traumata ein Leben lang in den Gliedern stecken, wie der niederländische Traumaforscher Bessel van der Kolk in „Verkörperter Schrecken“ schreibt, bleibt der Atem dann für immer flach?

Wie eng Atem und Psyche zusammenhängen, bekomme ich während meiner Ausbildung zur Yogalehrerin bei einem Retreat in Costa Rica zu spüren. Wir üben „Pranayama“, die Kontrolle von „Prana“, der Lebensenergie, die mit dem ersten Atemzug in den Körper eintritt und ihn mit dem letzten wieder verlässt. Als ich den Atem anhalte, während meine Lehrerin – eine ebenfalls nach New York emigrierte Schweizerin – mit strenger Stimme bis zwölf zählt, rutsche ich in eine Panikattacke. Die Vorstellung “Luftanhalten, bis Du umfällst“ erinnert mich an Asthmaanfälle in der Kirche und die Durchhalteparolen meiner Grossmutter. 

Heute weiss ich, wie ich mit abwechselnder Atmung durch das rechte und linke Nasenloch Psyche und Geist beruhigen kann und die Gehirnhälften wieder in Einklang kommen. Das ist nichts Esoterisches, sondern rein Biologisches. Emotionale Zustände lassen sich am Muskeltonus ablesen oder eben an der Atmung: Wer Angst hat, atmet flach und schnell, wer sich erschreckt, atmet ruckartig ein und hält die Luft an. Umgekehrt kann ich über den Atem den Parasympathikus ansteuern, den sogenannten Ruhenerv, der für Erholung, den Stoffwechsel und den Aufbau körpereigener Reserven zuständig ist. In einer Panikattacke verschwindet zum Beispiel die Angst, wenn ich tief in den Bauch atme oder bewusst langsamer ausatme als ein. So steht es auch in Charlotte Selvers Büchern.

In der Rückschau habe Charlotte die Erlebnisse während der Nazi-Zeit als Übungsfeld für „die innere Arbeit“ interpretiert, sagt ihr Assistent Stefan Laeng. „Die Frage war, wie lasse ich nicht zu, dass mich das zerstört”, habe sie sich damals gesagt. Angesichts der Intensität solcher  inneren Vorgänge sind die Methoden, mit denen Charlotte ihnen begegnet, erstaunlich sanft. 

Im Grunde ist es ein verfeinertes Wahrnehmungstraining. Man lernt, immer präziser auf das zu justieren, was in Körper, Geist und Seele überhaupt los ist. Sicher, zum Unterricht gehören auch andere Methoden: das Balancieren auf Holzkeulen zum Beispiel, das Heben eines Steins oder das bewusste Gehen durch den Raum. Aber der Atem hilft eben nicht nur, innere Zustände wahrzunehmen, sondern sie auch zu beeinflussen. Angst zu lindern, Spannungen zu lockern, Unruhe loszulassen, Wut zu kanalisieren.

Ein Beispiel, Sitzung im Büro. Warum bringt mich der unqualifizierte Kommentar eines Kollegen so in Rage? Penisneid, sagt Freud. Männlicher Protest, sagt Freuds Schüler Alfred Adler, und meint damit den Widerstand der Frauen gegen das Patriarchat. Unerfüllte Bedürfnisse, sagt der Kommunikations-Guru Marshall Rosenberg. Und warum spüre ich plötzlich meine Beine nicht mehr? Weil der Körper alle Traumata speichert, sagt der Traumaforscher Bessel van der Kolk. Warum rast mein Herz, schwitzen meine Hände, glüht meine Stirn? Weil Gefühle sich im Körper verfestigen, sagt Ruth Cohn, Selver-Schülerin und prominente Vertreterin der psychodynamischen Psychotherapie.

Und wie werde ich die Wut über den Kommentar des Kollegen wieder los? Dreimal die Woche freies Assoziieren, Erinnern und Durcharbeiten auf der Couch, sagt Sigmund Freud. Den Urschrei rauslassen, sagt der Psychologe Arthur Janov. Tief atmen und spüren, sagt Charlotte Selver. Und tatsächlich: Nach ein paar tiefen Atemzügen wird es wieder ruhig und geordnet. Ich kann mich der Verletzung zuwenden, die unter der zu Tage getretenen Wut liegt, wie es die amerikanischen Psychologen und Zen-Lehrer Tara Brach und Jack Kornfield empfehlen. Ich kann mich an Körperbilder erinnern, wie mit einer Hitzekamera aufgenommen, die zeigen, dass alle Menschen Wut ähnlich spüren. (Googeln Sie das mal! “Wo spürt man Wut im Körper?”). Vor allem aber kann ich artikulieren, was diese Situation jenseits eines Übungsfeldes für die eigene Gefühlsregulierung eben auch ist: Mansplaining und die Zurschaustellung des Habitus eines unreflektierten Mannes, der noch nie an irgendeine Grenze gestossen ist. Mit ruhigem Atem und aufgeklärtem Geist kann ich dem Kollegen sagen: Check your privilege, baby!

Und Charlotte Selver? Lebte sie, was sie lehrte? Ich sehe die sonst so einfühlsame Atemlehrerin vor mir, wie sie in den 1940er-Jahren ihren Schüler Fritz Perls anstarrt. „Arbeite mit mir zusammen und ich mache Dich berühmt“, versprach der damals noch gänzlich unbekannte Analytiker. „Wenn ich berühmt werden will, dann versuche ich das schon alleine“, entgegnete Charlotte. So jedenfalls schrieb sie es einer Freundin. „Er wurde mein bester Feind“, erzählte sie ihrem Assistenten Stefan Laeng Jahrzehnte später. „Viele Jahre lang sprach er [Perls] nicht mit mir. Wenn wir uns in Gesellschaft trafen, starrte er mich mit seinen grossen, dunklen Augen an. Und ich starrte zurück.“

Zwanzig Jahre lang warfen sich Selver und Perls böse Blicke zu. Erst als beide im 1962 gegründeten Esalen-Institut für interdisziplinäre humanistische Studien ihre jeweils anerkannten Methoden lehrten, gaben sie sich wieder die Hand. Ein halbes Jahrhundert dauerte auch das Schweigen zwischen Charlotte Selver und ihrer schwesterlichen Freundin Carola Spitz, nachdem die beiden sich über die richtige Atemmethode verstritten hatten. Erst mit 95 Jahren, beide im Rollstuhl, die eine fast taub, die andere stumm vom Schlaganfall, gab es einen Versöhnungsversuch. 20.-Jahrhundert-Menschen halt“, meint Christoph Ribbat, der Carola-Spitz-Biograph, als wir telefonieren, und: „Ich kenne diese Härte von meiner Oma!“ Ich auch, denke ich bei mir. 

Was ich auch kenne: Tausend hilfreiche Methoden im Kopf haben, sie in den entscheidenden Momenten aber nicht anwenden können. So sei das eben, wenn die Amygdala, der emotionale Teil des Gehirns, eine traumatische Erinnerung wiederzuerkennen glaubt, den rationalen Teil des Gehirns ausschaltet und kein überlegtes Agieren mehr möglich ist, lese ich beim Traumaforscher Bessel van der Kolk. Charlotte Selver wird diese Momente gekannt haben mit ihrem herausfordernden Leben. Und wie ich wird sie festgestellt haben: Das einzige, was die Amygdala, diese Hirnregion mit dem schönen deutschen Namen Mandelkern, beruhigt, ist das Atmen.

Luft holen, mit weit ausgebreiteten Armen, und die Wut in den Sturm schreien, wenn es denn sein muss. Der berauschende Blick über den Pazifik vor ihrem Haus bei Muir Beach muss befreiend auf sie gewirkt haben. Drei glückliche Jahrzehnte, bis zu ihrem Tod im Alter von 102 Jahren, lebte sie hier mit ihrem Mann Charles. Sie führten ein Leben, von dem ich träume, seit ich Joan Didion gelesen habe. Die in Kalifornien geborene Essayistin wohnte in den Sechzigern mit Kind und Mann, dem Dichter und Drehbuchautor John Dunne, in Malibu, einige hundert Meilen die Küste hinunter. Charlotte und Charles machten hier ein Vermögen. Nicht mit Achtsamkeitskursen, sondern mit dem Verkauf von Land und Boden um ihr Haus herum.  

Ihre Dinnerparties verliefen ähnlich wie die gemeinsam geführten Workshops in Mexiko, Maine, New York oder im Schwarzwald: ein bisschen wild, voller Enthusiasmus und mitunter kontrovers. Ein Abenteuer, bei dem nicht selten die Funken schlugen, erinnert sich der Dichter und Zen-Buddhismus-Priester Norman Fischer. In Charlottes Wohnzimmer hing die Kalligraphie eines Rilke-Gedichts: „Atmen, du unsichtbares Gedicht! / Immerfort um das eigne / Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengesicht, / in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Ausgestreckt auf dem Daybed meines Studios lese ich die mystische Beschreibung von Charlottes letztem Atemzug. Die Millionen sind verschenkt, das Haus auf dem Hügel auf den Norman Fischer überschrieben, die treuesten Schülerinnen scharen sich für ein allerletztes Experiment um das Bett der Lehrerin. „Am Ende war Charlotte die reine Liebe“, sagt Lee Klinger Lesser, die Charlotte jahrzehntelang begleitet hat. Sonnenflecken tanzen über meine Beine und ich denke an Kafka, dessen „Wunsch, Indianer zu werden“ ich meinen Schülerinnen oft vorlese. „Gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen liess, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

Atemlos, haltlos, aber ganz eins mit dem Augenblick – so beginnt die Moderne in der Literatur. An eben jener historischen Epochenschwelle begann Charlotte Selver bewusst zu atmen. Aus den Experimenten wurde in 102 Jahren Leben ein existenzsichernder Anker. Wenn am Abend der Wind die Vorhänge aufbläht und wir Nachgeborenen auf meinem Terrazzoboden Charlottes Übungen ausführen, spüre ich: Der Atem gibt uns, was so viele Menschen in diesen Zeiten suchen: Halt in der Schwerelosigkeit.

Eine Version dieses Textes erschien in DAS MAGAZIN des Schweizer Tagesanzeiger, No 34, August 2022

Bild: “Breathing” by db_in_uk under Creative Commons

Wer nicht atmet, stirbt. Wer bewusst atmet, wird gesünder. Die Atemtherapie, die Charlotte Selver in den USA populär gemacht hat, löst Spannungen, Panikattacken und sogar Eifersucht in Luft auf, sagen professionelle Atmer.

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