Über die Zweckfreiheit des Spazierengehens

Nach Kloake riecht es auf dem schmalen Streifen zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal nicht mehr. Eher nach Motorenöl und Streichelzoo. Aber Gestank hat hier noch nie jemanden von irgendetwas abgehalten. Früher platzierten die Kumpels am Rande des so genannten „Köttelbeckens“ ihre Liegestühle. Heute führen Großeltern im Oberhausener Kaisergarten ihre Enkel spazieren. Zwischen Hochspannungsleitung und Fernwärmeschiene lernen sie, was Natur ist und Erholung – und seit Kurzem sogar, warum eine Brücke Kunst sein kann.

Tobias Rehberger, der bodenständigste unter den zeitgenössischen Künstlern, hat eine neue Brücke über den Kanal gebaut, obwohl es eigentlich schon alle fünfzig Meter eine gibt. Übergänge für Autos, für Strom, für Gas, für Güterzüge, für die S-Bahn, für den ICE. Aber eben noch keinen nur für Fußgänger. „Slinky Springs“ hat Rehberger seine Brücke genannt – wie das amerikanische Kinderspielzeug, diese laufende Metallfeder, die sich unkontrollierbar fortbewegt, sobald man sie einmal treppab angestupst hat.

Sanft ansteigend schlängelt sich Rehbergers Spirale durch das Grün der Bäume und springt wie von Zauberhand vom Oberhausener Kaisergarten hinüber auf die Emscher-Insel. Dort dreht sie noch ein paar Pirouetten, bis sie schließlich wenige Meter neben dem Radweg am Ufer ausläuft. Wer sich auf den Weg durch die 496 unregelmäßig angeordneten Spiralen macht, läuft auf einem elastischen Metallband, das Rehberger mit weichem Tartan in sechzehn verschiedenen Farbtönen von Gelb über Orange, Rot und Violett bis hin zu Türkis, Blau und Braun überzogen hat. Scheinbar reibungslos fließen die Schritte von den Turnschuhen in den Tartan-Belag, das Metallband, die Spirale und das elastische Gerüst, bis schließlich die ganze Brücke zu schwingen beginnt. Die Kinder fangen wild an zu hüpfen. Der Vater wagt einen Sprung. Und mitten über dem Wasser geht auch die Oma mal in die Knie.

Doch sollte man nicht meinen, Rehberger hätte Oberhausen nichts weiter als eine gigantische Spaßrutsche ins Naherholungsgebiet gesetzt. Seine Brücke bringt an diesem Ort der Muße die Zweckfreiheit des Spazierengehens auf den Punkt: 406 Meter ist sie lang, obwohl es im Grunde nur 62 Meter Kanal zu überbrücken gibt. Auch die Spirale lässt noch ordentlich Spielraum, auf 7800 Meter ließe sie sich dehnen. Anders als bei den zahlreichen Nachbarbrücken geht es hier eben nicht um zielgerichtetes Überqueren eines Hindernisses. Wie leicht verirrt man sich beim Hinaufsteigen in den Kurven der Serpentinen oder verfängt sich im Blätterwald, der plötzlich so unwirklich nah ist. Ist das ein Ahorn oder der Urwald am Rande des Amazonas? Wie Kinder im Spiel verlieren die Spaziergänger das Gefühl für die Zeit. Sie bleiben stehen, gehen ein paar Schritte zurück und betrachten die brütende Ente unter ihren Füßen. Oder den alten Fußball im Tümpel. Oder den Kahn, der stromaufwärts tuckert. Schnell ist da mal eine halbe Stunde vergangen – oder waren es nur drei Minuten?

Seine volle Kraft entfaltet „Slinky“ jedoch erst über dem Kanal. Wie bei allen Brücken bleiben Fußgänger in der Mitte unwillkürlich stehen und schauen übers Wasser. Getragen von der Zugkraft elastischer Bänder hängen sie in der Luft, weder hier noch dort, weder im Eben noch im Gleich. Vollkommen ausgesetzt und doch geschützt durch den Kokon der Spiralen, die sie umgeben. So dem Alltag enthoben wird der Blick klarer: Die Aussicht ist trostlos. Links die Flutlichtanlage, Hochspannungsmasten, Schlote, das Kraftwerk. Rechts verrostete Eisenbahnbrücken, die Schnellstraße, Stau. Die Uferkante ist schnurgerade, der Rasen raspelkurz. Inmitten all dieser Effizienz und Rechtwinkligkeit wirkt Rehbergers „Slinky“ wie ein Spielzeug, das jemand beim Aufräumen im Vorgarten vergessen hat. Wer jetzt die elastische Tartan-Bahn zum Schwingen bringt, der spürt, was Kunst hier bietet. Die Spirale wird zur Sprungfeder und katapultiert jeden, der sie betritt, in eine andere Dimension. Es entfaltet sich ein fröhliches Spiel mit Ästhetik, mit Raum, mit der Zeit. „Slinky Springs“ ist genau das, was in dieser abgewrackten Industrielandschaft gefehlt hat: Die Möglichkeit einer Insel.

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 14. Juli 2011 im Feuilleton der Welt.

Bild: „Slinky Springs to Fame (Rehberger Brücke)“ by Michael under Creative Commons License

Dem Alltag enthoben: Der Künstler Tobias Rehberger schenkt dem Ruhrgebiet eine federleichte Brücke

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