Über das Zitieren in der Kunst

Nachdem er den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi zu sechs Jahren Haft verurteilt hatte, wandte sich der Richter freundlich dem Angeklagten zu und sprach: „Lenken Sie Ihre Talente in legale Bahnen, und alles ist in Ordnung.“ Der Richter, der dem Prozess am Kölner Landgericht Ende Oktober ein so schnelles Ende gesetzt hatte, ahnte wohl, dass sein Urteil nicht den Kern dessen traf, was in der Öffentlichkeit als „größter Kunstfälscher-Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet wurde. Denn erstens sind Beltracchis Bilder gar keine Fälschungen im herkömmlichen Sinne. Der technisch und stilistisch versierte Maler kopierte nicht die Gemälde berühmter Kollegen, sondern er erfand Werke, „die nicht im Oeuvre hätten fehlen dürfen“.

Es sind Neuschöpfungen, in denen nicht nur namhafte Experten, sondern auch die eine oder andere Künstlerwitwe den Pinselstrich des Originalgenies wiederzuerkennen glaubten. Außerdem stand hier ein Maler für etwas vor Gericht, das seit gut hundert Jahren zu den künstlerischen Verfahren der Moderne gehört und glücklicheren Künstlerkollegen Weltruhm eingebracht hat: die konsequente Demontage des Originals und seines genialen Schöpfers.

Anfang des 20. Jahrhunderts erhob Marcel Duchamp Pissoirs und Fahrradreifen zu „einzigartigen“ Kunstwerken, die durch ihre technische Reproduzierbarkeit keineswegs ihre Aura verloren. Im Gegenteil, dachte sich Andy Warhol Jahrzehnte später und reproduzierte in seinen Siebdrucken nahezu alles, was ihm in die Finger kam: Blumenbilder, Suppendosen, Porträts von Society-Ladys und Originalgenies wie Johann Wolfgang von Goethe.

Als Ende der Sechzigerjahre die Appropriations-Künstlerin Elaine Sturtevant anklopfte, um seine „Blumenbilder“ nachzudrucken, schenkte Warhol der Kollegin sogar seine Siebdruckfolien, die ja selbst wiederum auf einer Kodak-Werbung basierten. Kopie und Original waren ohnehin nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Was soll da noch die Frage nach Authentizität? Für die Postmoderne gilt, was der Film „Fight Club“ treffsicher auf den Punkt bringt: „Alles ist eine Kopie einer Kopie einer Kopie.“ Nichts ist echt, nichts „originär“ – auch kein Kunstwerk. Der Künstler kann nichts Neues mehr erschaffen, er agiert nur noch als Arrangeur von Zitaten und Versatzstücken, die er aus einer unablässigen Flut von Bildern und Worten herausfischt.

Die Frage nach dem Original hingegen tritt auf mit einem Schöpferbegriff aus dem 18. Jahrhundert – wer ist der wahre und einzige Urheber? In der Literatur mag das für Goethe noch gegolten haben, aber schon für den Großschriftsteller Thomas Mann, der sich für seinen „Dr. Faustus“ eifrig bei Adorno bediente, trat sie in den Hintergrund. Relevant scheint die Frage heute nur noch für Juristen und Feuilleton-Veteranen, die das normative Gerüst verteidigen, auf denen ihre Urteile fußen. Und so fiel vor knapp zwei Jahren die Jungschriftstellerin Helene Hegemann in Ungnade, weil sie die „Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess“ pries und auf ihr Recht auf zeitgenössische Techniken wie Mash-up, Copy & Paste und Remix pochte. Eigentlich die Behauptung einer postmodernen Autorschaft, die ganz selbstverständlich collagiert, montiert und zitiert. Nur dass das Zitat eben als Zitat erkennbar sein muss.

Auch das Zitieren will schließlich gekonnt sein. Was die Kunst des Zitierens ausmacht und wie dieses Verfahren das künstlerische Schaffen der letzten Jahrzehnte verändert hat, versucht nun eine Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe zu ergründen. Schon der Titel „Hirschfaktor“ zeigt den theoretischen Ansatzpunkt der Schau, führt aber in die Irre. Denn der Hirsch-Faktor – benannt nach dem amerikanischen Physiker Jorge Hirsch – gibt an, wie oft ein wissenschaftliches Werk zitiert wird. Je höher die Zahl, desto größer der vermeintliche „Wert“ eines Wissenschaftlers.

Es wäre absurd, nachzuzählen, wie oft etwa Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ in der Kunst zitiert worden ist. Auch der Wert eines Rembrandts steigt nicht unbedingt mit der Zahl seiner Kopien. Außerdem wird man in Gemälden selten Anführungszeichen finden, während das Weglassen ebendieser in der Wissenschaft streng sanktioniert wird, wie es mittlerweile sogar ein gewisser Baron aus Bayern weiß. In der Kunst erkennt die Zitate nur, wer über einen gewissen Bildungskanon verfügt. Der weltgewandte Connaisseur geht ins Museum, erklärt den Verwandten aus der Provinz die kunsthistorischen Anspielungen und genießt, wie die Kunst ihm spielerisch sein eigenes Wissen bestätigt.

Spätestens seit Warhols Suppendosen ist das natürlich anders. Heute, wo Popkultur und Internet längst als zitierfähige Quellen gelten, kann jeder Konsument und Fernsehzuschauer die Anspielungen decodieren. Außerdem blicken einem die Ikonen der Kunstgeschichte ja seit Jahren von Kaffeetassen, Frühstücksbrettchen oder Schlüsselanhängern entgegen. Das prägt sich ein. Und so freut sich der Besucher, wenn er in Karlsruhe Mondrian-Rechtecke auf Duschvorhängen entdeckt, Regale, die in Mondrian-Art angeordnet sind, und grau-rot-weiß karierte Gummistiefel, die Sylvie Fleury zu einem schönen Mondrian-Plastikhaufen arrangiert hat.

Peter Zimmermann hat zur Sicherheit noch den Namen seines Vorbilds in eines der weißen Kästchen geschrieben. Schön ist auch, Warhols bunten Goethe-Druck im „Original“ vor sich zu haben. Sieht doch anders aus als auf dem Notizheft zu Hause. Sogar das schwarze Malewitsch-Quadrat taucht auf. Allerdings in gewebter Form und von Rosemarie Trockel mit dem wohl meistzitierten Satz der europäischen Ideengeschichte garniert: „Cogito, ergo sum“. Auf ihren Wandteppich aus Delfter Kacheln schreibt Trockel spiegelverkehrt das Nazi-Motto „Freude“. Eine Verdrehung der Zitate-Ebenen, die auf die historische Verstrickung von Deutschen und Holländern anspielt.

Leichter machen es einem die Künstler der Neunzigerjahre, die wie Großvater Warhol die Bilder unserer Konsumwelt reproduzieren. Sylvie Fleury hat die berühmte Kelly-Bag in Bronze gegossen und präsentiert sie auf einen kuschelig-weichen Fellsockel. Daniel Pflumms Videocollage aus Werbelogos illustriert zu knallharten Techno-Rhythmen die hirnerweichende Wirkung des internationalen Marketings. Am konsequentesten „zitiert“ haben jedoch die Vertreter der Appropriation Art in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Sie machten das Ausleihen, Aneignen, Kopieren, letztlich das Klauen zum Prinzip. Sherrie Levine etwa fotografierte Bilder von Walker Evans und William Turner aus Bildbänden ab und stellte sie unter ihrem eigenen Namen aus. Perfekt wäre die Verwertungskette dokumentiert, wenn im ZKM auch noch Michael Mandibergs Serie „After Sherrie Levine“ zu sehen wäre, die Fotografien von Levines Kopien zeigt.

Weil die Ausstellung bewusst auf erklärende Fußnoten verzichtet, geht es dem Besucher oft nicht anders als dem ahnungslosen Onkel aus der Provinz: Allein gelassen in der postmodernen Zitatlandschaft, kann er entweder wissend schmunzeln – oder eben nicht. Da stiftet auch das in einem engen Zwischengang angebrachte Glossar nicht mehr Erkenntnis.

Immerhin eine kleine Lektion in Sachen Urheberrecht erteilen die ausgestellten Arbeiten von Elaine Sturtevant: In monatelanger Detailarbeit hat sie Beuys‘ Fettstuhl und ein Blei-Flugzeug im Stil von Anselm Kiefer nachgebaut. Genau wie die Neudrucke der Warhol-Blumen sind diese Nachschöpfungen vom vermeintlichen „Original“ kaum zu unterscheiden. Trotzdem besitzt Sturtevant das Urheberrecht daran. Denn anders als der verurteilte Kunstfälscher Beltracchi hat sie die Kopien auch als solche verkauft.

 

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 16. November 2011 im Feuilleton der Welt.

Bild: „Stiefel“ by Martin Abegglen under Creative Commons License

Beltracchi, übernehmen Sie: Eine Ausstellung im Karlsruher ZKM widmet sich dem Zitat in der Kunstgeschichte und verheddert sich ganz ohne Fußnotenim Dschungel der Postmoderne

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