Über das Schmoren in der Verweishölle

Referenzhölle ist wohl das Wort, das am häufigsten fiel im Hörsaal 2 der Frankfurter Goethe-Universität – denn zur diesjährigen Poetikvorlesung trat Thomas Meinecke mit dem an, was er am besten kann: Platten auflegen, Zitate sampeln, Theorien wälzen. Anstatt akademisch wohlgesetzt zu erklären, was er wie und warum so schreibt, las er Fragmente aus Kritiken, Interviews, Magisterarbeiten oder von und über Meinecke. Und zwar fast ohne zwischendurch mal Luft zu holen.

Wer Meinecke kennt, hätte damit rechnen können. Die Mehrzahl der Besucher schien jedoch überrumpelt von diesem Pastiche, Palimpsest, Patchwork, Remix oder was auch immer. Besonders die Seniorhörer hatten sicher auf etwas Gepflegt-Erbauliches gehofft – wie 1959 bei Ingeborg Bachmann, 1980 bei Martin Walser oder 2009 bei Durs Grünbein. Oder wenigstens auf etwas Entblößendes wie 2010 bei Navid Kermani, der so ausführlich über seine Sexualpraktiken berichtet hatte. „Keine Angst, hier wird keine Martin-Mosebach-Stimmung aufkommen“, prophezeite Meinecke. Nur kam diese Warnung erst in der vierten Sitzung, da hatten die Mosebach-Fans längst das Weite gesucht.

Meinecke schien das nicht zu stören. Schließlich offenbarte der Publikumschwund einmal mehr, dass man es mit ihm nur so oder so halten kann: Entweder man geht oder man ergibt sich. Wie ein Idiot fühlt man sich in beiden Fällen. Draußen stehen ein paar Seniorhörer und bestürmen eine „Junge“, die frühzeitig den Hörsaal verlässt: „Haben Sie das etwa alles verstanden?“ Drinnen versuchen ganz Eifrige noch mitzuschreiben. Völlig zusammenhanglos stehen dann ein paar Kritiker- und Autorennamen auf dem Papier. Doch irgendwann lehnen sich auch die Stenografen zurück. Wie alle anderen belassen sie es von nun an bei einem ironischen Lächeln, wann immer sie glauben, eine Anspielung verstanden zu haben. Manchmal nicken sie auch, wenn sich ihre Lektüreerfahrungen mit denen von Meineckes Figuren decken: „Homi K. Bhabha hat mich damals schier in den Wahnsinn getrieben.“

So rauscht dann einiges vorbei. Die Ursprünge des deutschen Pop-Romans etwa: Suhrkamp-Boys vs. Kiwi-Jungs, Auszüge aus dem Standardwerk von Moritz Basler, Benjamin von Stuckrad-Barre, der behauptet, sich nicht für Mode zu interessieren. Und Meinecke, der darauf antwortet, Pop sei ja eher ein „Darkroom mit so fiesen Strategien“. Es folgen 30 Kritikerzusammenfassungen der „Tomboy“-Schlüsselszene: „Schwangere dringt mit Dildo in bisexuelle Freundin ein.“ Meinecke zitiert Rainald Goetz, der in „Abfall für alle“ Meinecke zitiert, wie der mit Hubert Winkels spricht, der gerade dessen letzten Roman verrissen hat. Dann trägt Meinecke aus einer Magisterarbeit über Meta-Meta-Dialektik bei Meinecke vor, deren Definition von „Intertextualität“ eher nach Plagiat als nach Pastiche klingt.

Blutleere Figuren, nicht existente Handlung, unlesbare Dialoge, „Denken in verteilten Rollen“. Genüsslich, ohne eine Spur Ironie in der Stimme, liest Meinecke die Vorwürfe vor, die Kritiker ihm bei jedem neu erscheinenden Buch wieder an den Kopf knallen. „Ich habe es nicht geschrieben, damit man es versteht, sondern damit man es liest“, zitiert er zwischendurch sich selbst.

Auch Meineckes erster poetologischer Versuch kommt zur Sprache. „Ich als Text“ heißt er, wie ein Song von Meineckes Band F.S.K. und die Poetikvorlesung selbst. Von seinem „grenzenlosen Grauen vor der originellen Idee“ berichtet Meinecke da. Und dass er eben nicht als Autor schreibe, sondern als Leser, der den Text durch sich durchgehen lasse. „Das Buch schreibt mich.“ In einem späteren Interview macht er sich lustig über den hohen Ton, den er damals angeschlagen habe. Als würde da irgendein „Schöpfer-Ich“ sprechen, ein „Originalgenie“ gar. Eben deshalb habe er die Einladung für die Frankfurter Poetikdozentur auch schon zweimal abgelehnt. Einar Schleef und Rainald Goetz, die er selbst hier in Frankfurt schon erlebt habe, hätten das Künstlerische ihrer Texte auch im Auftritt einhalten können. Aber in Meineckes Fall sei doch gerade das „Unsouveräne“ das Spannende. Er schäle sich morgens ja nicht im Brokatmorgenmantel aus dem Himmelbett, sondern setze sich halt an den Schreibtisch.

Wie kann so jemand sich dann herausnehmen, ex cathedra zu sprechen? Einfach, indem er macht, was er immer macht: Platten auflegen, Zitate sampeln. Dann oszilliert und rhizomelt es, bis einem der Kopf schwirrt. Das ist wohl das Rauschen, wenn der Text durch einen durchgeht. Und erstaunlicherweise bleibt bei denen, die sich diesem Rauschen hingegeben haben, am Ende doch mehr hängen als bei einem akademisierten Grünbein-über-Grünbein-Abend. Pastiche, Palimpsest, Parodie, Remix – die Begriffe sitzen. Noch dem letzten übrig gebliebene Seniorhörer ist jetzt klar, was queer und heteronormativ ist, wie postkoloniale Theorie mit dem Marienkult zusammenhängt und warum Meinecke doch ganz anders arbeitet als Helene Hegemann. Damit hat Thomas Meinecke erreicht, was er in einem Zeitungsinterview auch seinen Lesern verspricht: „Sie sollen Spaß haben, mit mir durch die Verweishölle zu gehen.“

 

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 13. Februar 2012 im Feuilleton der Welt.

Bild: „Pop!“ by Marc Climent under Creative Commons License

Thomas Meinecke dekonstruiert die Frankfurter Poetikdozentur

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