Das Leben als Zeitskulptur

Ein paar Tage vor dem 1. April ereignet sich in München Seltsames. Ein ausgewählter Kreis von Sammlern und Museumsleuten ist zur Lesung in die Galerie Häusler Contemporary geladen. Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann gibt seinen Essay „Nietzsches Regenschirm“ zum Besten. Ein klug-amüsanter Vortrag über das Wesen des Schirms und einen Satz, der völlig zusammenhanglos in Nietzsches Schriften auftaucht: „Ich habe meinen Schirm vergessen.“

Zu scheinbar willkürlich gewählten Stichwörtern (vielleicht immer, wenn Tiere auftauchen?) tritt ein Mann mit wildem Haupthaar zu einem der Schirme, die von der Decke hängen. Er hält eine Taschenbatterie an die mit dem Schirm verbundene Zündschnur, eine kleine Explosion ereignet sich, und der Schirm fällt schnurgerade in den unter ihm aufgestellten Sandeimer. Da steckt er nun. Zehnmal fällt an diesem Abend ein Schirm von der Decke. Am Ende wird geklatscht.

Nun könnte man meinen, dies sei eine Demonstration des so speziellen schweizerischen Humors, wie man ihn vom Künstlerpaar Fischli/Weiss kennt – vollkommen gaga, aber irre witzig. Doch dem Mann mit dem weißen Haupthaar scheint es ernst zu sein. Ohne mit der Wimper zu zucken, vollzieht er seinen Dienst. Kein Lächeln ist unter der enormen Brille zu erkennen. Das würde auch nicht passen. Denn der Mann mit dem wilden Haupthaar ist Roman Signer, einer der bedeutendsten Schweizer Künstler der Gegenwart. Trotz seiner Vorliebe für Dynamit ist er ein leiser Künstler. Obwohl seine Performances oft komisch wirken – wie die „Aktion mit schwarzen Regenschirmen“ in München – Humor ist nicht Signers Ziel. Wenn die Leute trotzdem lachen, hat er allerdings nichts dagegen.

Seit den Siebzigerjahren experimentiert Roman Signer in seinem Atelier und auf einer Wiese im Appenzeller Land mit explosiven und alltäglichen Materialien. Am bekanntesten sind wohl seine „Wasserstiefel“ von 1986. Eine Fotografie hält den Moment fest, in dem zwei Wasserfontänen aus einem Paar schwarzer Gummistiefel herausspringen. Als würde das Wasser in den Stiefeln zum Laufen ansetzen. Zum Abschluss der Documenta 8 veranstaltete er 1987 seine „Aktion mit Papierblättern“. Vor der Orangerie ordnete Signer 350 Stapel Papier zu je 1000 Blatt in einer Linie an. Mit Sprengladungen schoss er die 350.000 Papierblätter gleichzeitig in die Höhe, wo sie für kurze Zeit eine flatternde Papierwand von 15 Meter Höhe und 300 Meter Länge bildeten. Die Orangerie war verschwunden.

Ähnlich viel Aufmerksamkeit erzielte Signer mit seiner Arbeit „Salut“ zum Durchstich des Gotthard-Tunnels am 15. Oktober 2010, als er hundert gelbe Bauarbeiterhelme gleichzeitig in die Luft fliegen ließ. Eine „Zeitskulptur“ zu Ehren der Arbeiter, die sich durch den Berg gegraben hatten. Weniger aufwendig, aber umso überraschender verlief die Aktion „Kajak“ im Jahr 2000. Während Signer sich im Kajak über einen Schotterweg schleifen lässt, galoppiert eine wild gewordene Kuhherde neben dem merkwürdigen Gespann her. Solche „skulpturalen Ereignisse“ wie Signer sie nennt, hält der Künstler in Videos und Fotografien fest. Oder in Form einer Installation wie die „Aktion mit schwarzen Regenschirmen“, die Häusler Contemporary nun für 65.000 Euro zum Kauf anbietet. Signer wird sie dem neuen Raum anpassen und die Schirme bei passender Gelegenheit auch noch einmal zünden. Einige große deutsche Museen haben schon Interesse bekundet.

Wie das Kajak, die Gummistiefel, der Ballon und der Stuhl gehört der Schirm zu den wiederkehrenden Accessoires in Signers Werk. Die interessantesten Fotografien zum Thema Schirm hat die Galerie Häusler Contemporary nun in ihrer Münchner Dependance versammelt. Offensichtlich skulptural sind Signers fotografierte Versuchsanordnungen aus den Jahren 2007 und 2009. Zwei Schirme sind mit einem Tesla-Apparat verbunden, der Starkstrom durch ihr Metallgerippe schickt. In einem grellen Blitz springt die Energie von einer auf die andere Schirmspitze über – zuweilen entflammt die Verbindung sogar.

In einer aktuellen Serie aus dem Jahr 2011 geht Signer der Koexistenz von Schirm und Natur nach. Wie ein zeltartiger Unterschlupf hockt ein aufgespannter Schirm im Laub. Ein anderer versendet Rauchzeichen aus seinem schwarzen Bauch. Ein dritter droht in einer idyllischen Flusslandschaft zu ertrinken, nur noch die Spitze ragt einsam aus dem Wasser. Hier spürt man den Ernst, die Melancholie, die hinter Signers Kunst steht. So leise wie dieser Schirm will niemand untergehen. Aber auch Lachen kann man, etwa über den Schirm, der ein zwischen den Baumstämmen gespanntes Seil entlanghangelt – wie Tarzan mit fliegendem Trench. Noch liegen die Fotografien bei 3600 Euro. Wegen des für einen Schweizer Künstler so ungünstigen Euro-Kurses wird der Preis jedoch noch im Frühjahr auf 4300 Euro steigen. Einige Arbeiten sind bereits auf der Vernissage an Privatsammler aus dem süddeutschen Raum gegangen.

Nach diesen nur sekundär erfahrbaren „Zeitskulpturen“ stolpert man in der Galerie dann doch noch über eine Skulptur im herkömmlichen Sinne. Ein einfacher Holzstuhl, auf dessen Sitzfläche ein schwarzer Regenschirm liegt. Das untere Ende biegt sich im rechten Winkel zum Boden – wie ein sitzendes Männerbein in schwarzen Hosen. Angesichts der schlaffen Haltung, die der Protagonist dieser ungewöhnlichen Galerie-Ausstellung hier einnimmt, kommt einem eine Stelle aus Hürlimanns Regenschirm-Vortrag wieder in den Sinn. Der Schriftsteller zitiert den Philosophen Jacques Derrida, der den Schirm als „Mittelwesen“ interpretiert. Denn der Schirm schwebe oder spaziere zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Firmament und dem Schlangengrund. Er habe also all jene Eigenschaften, die Thomas von Aquin dem Engel zuweise. Viel bedeutungsschwerer Ballast, der dem Schirm hier zugemutet wird. Roman Signer scheint Mitleid mit dem armen Ding bekommen zu haben. Instinktiv fühlt er: Auch ein Schirm will einmal ausruhen.

(c) SARAH ELSING

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 7. April 2012 in der Welt.

Bild: „Kayak” by Roman Signer at the Barbican. Von Paul Hudson under Creative Commons Licens

 Die Galerie Häusler Contemporary zeigt die wundersamen Skulpturen des Schweizer Sprengmeisters Roman Signer

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