Berlin Valley

Titelstory & Gründer*innenportäts für Werte 19 / 2017 Premiumkunden Magazin der Deutschen Bank

Das St. Oberholz am Rosenthaler Platz in Berlin Mitte ist ein mythischer Ort. Nicht nur, weil Alfred Döblin vor gut hundert Jahren in der damaligen Schankwirtschaft seinen Franz Biberkopf aus ein- und ausgehen ließ. Der Berliner Alexanderplatz ist tatsächlich nur einen Steinwurf entfernt. Eine Institution ist das St. Oberholz auch, weil es Anfang des neuen Jahrtausends das war, was man rückblickend als die Keimzelle der Berliner Startups-Szene bezeichnen würde.

Noch heute zeigt sich hier Berlin Mitte, wie es in der Zeitung steht. Schöne, junge Menschen schauen auf Bildschirme und arbeiten an Projekten. Aus dem Latte der Nullerjahre ist Flat White geworden, aus Apfelkuchen New York Cheesecake. Und die Bestellung – zu dem man die Gäste nach fünf Stunden kostenloser WLAN- und Stromnutzung geradezu nötigen muss – verläuft zum Bedauern so manches CDU-Politikers meist auf Englisch.

Längst hat sich das Café in ein professionelles „Coworking Space“ verwandelt – mit Großraumbüros sowie Team- und Konferenzräumen an drei Standorten rund um den Rosenthaler Platz. Sogar Apartments kann man mieten. Vor allem aber die Mischung der Gäste habe sich über die Jahre verändert, berichtet Ansgar Oberholz, der das Café 2005 gemeinsam mit Koulla Louca gegründet hat. Zu den kreativen Freelancern und Bloggern der Pionierjahre, die wie Sascha Lobo und die Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig öffentlichkeitswirksam das „Leben jenseits der Festanstellung“ feierten, gesellten sich zunächst Startups mit ein, zwei Mitarbeitern. Einige davon – wie etwa der im St. Oberholz gegründete Kochboxen-Lieferant „Hello Fresh“ – sind heute Millionen wert. Seit zwei, drei Jahren mieten sich auch immer mehr mittelständische Unternehmen und Konzerne in den Coworking Space ein. So haben etwa Daimler, der Bürogerätehersteller Triumph Adler und bis vor Kurzem auch die Berliner Verkehrsbetriebe ihre Kreativteams im St. Oberholz sitzen.

„Das ist zum einem dem Design-Thinking-Boom zu verdanken, der zeigt, dass flache Hierarchien und Meetings in lockerer Umgebung bessere und kreativere Ergebnisse hervorbringen“, erklärt Ansgar Oberholz. „Andererseits suchen die Unternehmen hier Kontakt zu den Vordenkern der Digitalbranche, um besser auf die Veränderungen durch die Digitalisierung vorbereitet zu sein. Hier in Berlin sind sie ganz nah am Puls der Zeit.“

Die Berliner Startup-Szene ist erwachsen geworden

Nirgendwo sonst in der Republik werden aktuell mehr Startups gegründet als in Berlin. 2016 verortet der von KPMG und der Universität Essen durchgeführte Deutsche Startup Monitor 17 Prozent aller deutschen Startups in der Hauptstadt. Wer einmal die Torstrasse entlang gegangen ist, weiß, warum das so ist: „Berlin ist ein sehr freier Ort“, sagt Ansgar Oberholz. „Diese Toleranz war der Berliner Gesellschaft schon immer zu eigen. Aber Berlin ist trotzdem sehr verbrechenssicher und zuverlässig. Und es ist ganz vorne mit dabei, was Gender- und Diversitätsthemen angeht. Das zieht junge, talentierte Menschen, die so genannten ‚high potentials‘, hierhin.“ Und Berlin kann sich jeder leisten. Denn trotz starker Steigerungen liegen die Mieten in Berlin noch immer weit unter denen anderer westeuropäischer Hauptstädte.

„Berlin ist gerade eine der spannendsten Hauptstädte der Welt“, sagt auch Niclas Rohrwacher von der Factory, dem Epizentrum der Berliner Startupszene. „Es gibt wenige Städte die so divers, kreativ und im besten Sinne verrückt sind wie diese. Wir sind der festen Überzeugung, dass Berlin das europäische Zentrum für Startups werden wird.“ Diese Entwicklung sieht auch Stefan Franzke, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Berlin Partner, wo Senat und Unternehmen zusammenarbeiten: „Berlin wird stärker und stärker.“ Er glaubt, dass der Brexit viele Unternehmen, startups und Investoren aus London nach Berlin bringen werde. „In Berlin sind wir weltoffen. Hier sind alle willkommen.“

Entscheidend ist jedoch noch etwas anderes: Aus den vor sich hin wurschtelnden Projektemachern sind professionelle Jungunternehmer geworden, die in den Zukunftsbranchen entscheidende Impulse geben. Die Berliner Startup-Szene ist erwachsen geworden. Das macht Berlin so interessant für Investoren: Nach einer Studie der Beratungsgesellschaft Ernst & Young avancierte Berlin 2015 mit 2,1 Milliarden Euro Risikokapital europaweit zum Investorenliebling Nummer eins - weit vor den deutschen Rivalen München und Hamburg. Im europaweiten Ranking folgen London (1,7 Milliarden Euro), Stockholm (992 Millionen Euro) und Paris (687 Millionen Euro).

In einer Stadt, die aus Mangel an eigener Industrie, Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen mit dem Slogan „Arm, aber sexy“ warb, verspricht der Startup-Boom in der Digitalbranche den lang ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung endlich wahr werden zu lassen. Nicht nur schaffen die jungen Unternehmen Arbeitsplätze: Einer Studie des Instituts für Strategieentwicklung zufolge hat sich die Zahl der Menschen, die in Berliner Startups beschäftigt sind, von 6.700 im Jahr 2012 auf 2016 13.200 nahezu verdoppelt. Zusammengenommen wären die Startups damit der fünftgrößte Arbeitgeber der Stadt, gleich nach den Berliner Verkehrsbetrieben und noch vor Siemens, das an der Spree seinen weltgrößten Produktionsstandort hat.

Ähnlich wie die Politik nach dem Regierungsumzug viele Verbände und Institutionen nach Berlin geholt habe, lockt die Digitalbranche auch zahlreiche Investoren und Akteure der "Old Economy" und der internationalen Szene in die Stadt. Das zeigt auch der Wandel in der finanziellen Struktur vieler Startups: Während vor Jahren noch viele der großen Startups aus dem Imperium der Brüder und Zalando-Finanziers Samwer stammten, kooperieren dem Deutschen Startup Monitor 2016 zufolge heute 70 Prozent der Startups mit etablierten Unternehmen.

Gründercampus mit internationaler Strahlkraft

Wie fruchtbar diese Kooperation für beide Seiten sein können, zeigt sich an einem anderen Hotspot der Berliner Startup-Szene. Zwei U-Bahnstationen weiter nördlich vom St. Oberholz steht seit Sommer 2014 die Factory Berlin. Für viele Millionen Euro haben die Unternehmer Simon Schäfer und Udo Schloemer die ehemalige Brauerei am alten Mauerstreifen an der Bernauer Strasse zum Gründercampus mit internationaler Strahlkraft umgebaut.

Rein ästhetisch unterscheidet sich die Factory zunächst nicht von herkömmlichen Coworking Spaces wie dem Betahaus, wework, mindspace oder Ahoy: Typisch Berliner Industrie-Charme, bunte Teppiche auf rohem Beton, Clubsessel und Wohnzimmerlampen sind locker um Coach-Tische aus Europaletten gruppiert. In der Ecke steht der obligatorische Kickertisch und es gibt energetisiertes Wasser frei Haus.

Doch die Gründer bleiben hier nicht unter sich. Auf den 16.000 Quadratmetern Bürofläche sitzen kleine Startups, Freelancer und Kreative zusammen mit hochgehandelten Internet-Firmen wie Twitter, Soundcloud und Uber und großen Playern wie Google, Ergo und Deloitte unter einem Dach. Die Deutsche Bank ist seit Sommer 2016 Kooperationspartner.

„Wir sind eher ein Businessklub als ein Coworking Space“, erklärt Niclas Rohrwacher, 29, Cofounder und Chief Relationships Officer der Factory. „Uns geht es um die Community. Wir bringen Gründer mit Investoren und Experten aus der Industrie zusammen.“ Zum Beispiel auf regelmäßigen events wie „Meet and Pitch“. Aus Anlass der einjährigen Partnerschaft mit der Factory stellt die Deutsche Bank heute die Deutsche Bank Labs, die Digitalfabrik und das Quartier Zukunft vor. Auch der Inkubator Axel Springer Plug and Play, dessen Schützlinge die Deutsche Bank mit auswählt, ist präsent.

„In unserem Deutsche Bank Labs in den Hackeschen Höfen suchen und identifizieren unsere Kollegen neue Technologien und relevante Partner für die Bank“, erklärt Philipp Schumacher aus dem Disruptive & Strategic Programs der Deutschen Bank. In der Digitalfabrik in Frankfurt entstehen neue Produkte und Dienstleistungen, auch in Zusammenarbeit mit Partnern aus der FinTech-Szene. „Das Quartier Zukunft in der Friedrichstrasse schließlich ist wie ein Kundenlabor, in dem wir neue Technologien wie die elektronische Signatur oder die Kontoeröffnung ohne Formulare direkt im Kundenverkehr testen.“

Die neue Rolle der Bank

Beim Fireside-Chat mit Firmenkundenchef Stefan Bender berichtet Bastian Unterberg, Gründer von jovoto, einer Plattform für kollaborative Design- und Marketingideen: „Wenn Du in einer Bank keinen Fürsprecher findest, der Deine Idee versteht und zur Not auch gegen Einwände der Vorgesetzten unterstützt, ist es für ein Startup schwer Erfolg zu haben.“ In den offenen Sprechstunden mit Beratern der Deutschen Bank können Gründer solche Fürsprecher in der Factory finden.

Umgekehrt erklären Gründer ihren Unterstützern den Wert moderner Methoden und Strukturen: Design Thinking, Agile, Lean, Scrum, flache Hierarchien, selbstbestimmte Teams – all das, was Startups so erfolgreich macht. In einem Workshop der „Digital Academy“ etwa ermutigt ein junger Coach vom Hasso-Plattner-Institut für Design Thinking in Potsdam eine gemischte Gruppe aus Managern und Gründern für die Lösung eines Problems auch mal auf die Straße zu gehen und die Ergebnisse mal vollkommen anders als mit den üblichen Power-Point-Folien zu präsentieren, berichtet Philipp Schumacher.

Auch wenn in Berlin an sehr vielen Orten an Trends der Zukunft gearbeitet wird, müsse nicht jedes Unternehmen, das beim Thema Digitalisierung den Anschluss behalten wolle, deswegen ein Büro in der Hauptstadt eröffnen, ergänzt Schumacher. „Da sehen wir auch eine neue Rolle als Bank. In Zukunft können wir nicht nur Begleiter in Finanzfragen, sondern auch in Sachen Digitalisierung sein.“

Später am Abend essen Gründer und Manager noch zusammen in der „Factory Kitchen“ zu Abend, dem Restaurant von Sternekoch Tim Raue im Erdgeschoss. Draußen an der Bar zwischen Bananen-Stauden und Fahrradständern berichtet Robert, ein australischer Unternehmensberater mit Investment-Hintergrund: „Es herrscht so eine Aufbruchsstimmung hier. Man hat Gefühl, da zu sein, wo die Zukunft gestaltet wird.“

Visumszusage innerhalb von fünf Werktagen

Genau um diese Zukunftsluft zu schnuppern, lassen sich Politiker aus ganz Europa gern über das Gelände der Factory führen. Auch der Berliner Senat tut einiges, um den internationalen Startups Leben und Geschäft in Berlin so leicht wie möglich machen. Die Wirtschaftsföderung Berlin Partner bietet Gründern konkrete Hilfe von der Wohnungs- und Locationsuche, über Rechtsberatung, Businessplan-Coaching bis hin zu Kontakten zu Investoren und Zugängen zu Auslandsmärkten.

In der Berlin Startup Unit diskutieren Vertreter der Verwaltung mit Gründern über Themen wie Infrastruktur, Vernetzung oder neue Willkommenskultur. Auf ein Ergebnis dieser Treffen ist Franzke besonders stolz: „Damit die oft selbst ausländischen Gründer leichter die besten Talente nach Berlin holen können, garantieren wir in fünf Tagen eine Aussage, ob der gewünschte Kandidat ein Arbeitsvisum bekommt.“ Schließlich kommen 42 Prozent der Berliner Startup-Mitarbeiter aus dem Ausland.

Trotzdem: Ein deutsches Silicon Valley wird Berlin nicht werden. Niclas Rohrwacher von der Factory stimmt der viel zitierten Prognose des Starinvestors Frank Thelen zu: „Berlin hat eine sehr eigene DNA, die man respektieren sollte. Die ist zwar digital und techaffin. Aber anders als in Kalifornien profitieren wir auch von der starken Tradition in der deutschen Ingenieurskunst.“

In diese Richtung gehen auch die zwei vom Bundeswirtschaftsministerium, dem Senat und Berlin Partner geförderte DigiHubs, wo Startups, Unternehmen, Forschungseinrichtungen und etablierte Mittelständler an digitalen Leuchtturmprojekten für Berlin arbeiten: In der ehemaligen Agfa-Fabrik im Görlitzer Park eröffnet die Factory diesen Herbst den DigiHub „IoT“ (Internet of Things), wo IoT Lösungen aus der Forschung von Company Buildern wie NBT und Startups auf Marktfähigkeit evaluiert und validiert werden sollen. FinLeap baut mit dem FinTech Hub „H32“ im ehemaligen Hauptsitz der Berliner Bank in der Hardenbergstrasse das Herz des FinTech-Ökosystems Berlins auf. Es soll Europas größter FinTech-Hub werden.

Wie viel ernsthafter und erwachsener das lockere Feier-Berlin mit den vielen hart arbeitenden Gründer geworden ist, zeigt sich auch in den neuen It-Places der Stadt: Die zentralen Figuren der Startup-Szene trifft man nicht unbedingt im coolen Sohohaus, wo sich die kreative Bohème aufhält, sondern auf der re:publica, der Tech-Com, im Technologiepark Adlershof, dem Campus für Biomedizin Berlin-Buch oder dem Euref-Campus in Berlin-Schöneberg. Im Schatten des weithin sichtbaren Gasometers testet das US-Startup Local Motors seinen „Olli“, den ersten selbstfahrenden Bus. Und die Jungs von „Green City Solutions“ bauen hier ihre City Trees, smarte Biotech-Filter aus Moosen, die schon in 16 europäischen Städten die Luft sauber halten.

Ebenfalls um Nachhaltigkeit geht es den Machern des „Holzmarktes“, der im Mai 2017 auf dem Gelände der legendären Bar 25 am Spreeufer eröffnete. Neben dem Technoclub „Kater Blau“ und dem Gourmet-Restaurant „Katerschmaus“ ist ein neues Stadtquartier gewachsen: ein Dorf mit Kita, Ateliers, Werkstätten, Läden, einem Café, Studios, einem Theater samt Probebühne und einem öffentlichen Park mit Spreezugang. Auch hier gibt es einen Coworking Space und eine lebendige community. Nur werden die Startups, die hier entstehen, wohl nicht nur digital, sondern auch sozial ausgerichtet sein.

„Die Bar 25 stand symbolisch für Freiheit, Techno, Klubkultur, Anarchie und günstige Mieten. Das waren die Gründe, warum viele Künstler und Kreative nach Berlin kamen. Auf diesem Boden ist letztlich auch der heutige Startup-Boom gediehen“, sagt Ansgar Oberholz. Selbst Mitglied der Infrastruktur-Gruppe der Berlin Startup Unit, die jedoch seit Anfang des Jahres nicht mehr getagt habe, sieht er die aktuelle Entwicklung des Immobilienmarkts problematisch. Nicht nur die rasant steigenden Mieten, sondern auch den Verkauf der Uferhallen in Wedding an einen privaten Investor: „Wir müssen aufpassen, dass der Nährboden, der den aktuellen Gründer-Boom überhaupt erst möglich gemacht hat, nicht zerstört wird.“

Zukunft gestalten in Berlin Valley

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Interview mit Tsitsi Dangarembga

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