Die deutsch-afrikanische Problemlöserin

Die Journalistin und Holocaust-Überlebenden Ruth Weiss im Porträt

Für das Jahrbuch der Deutschen Afrika Stiftung 2021/2022

Wie ein Skarabäus-Käfer schillert das Gedicht der Nobelpreisträgerin Herta Müller in der 700 Seiten starken Festschrift, die der PEN zu Ehren der Autorin und Journalistin Ruth Weiss herausgebracht hat. So wenig zufällig die ausgeschnittenen Wortschnipsel sich auf dem Papier zu Müllers berühmten Wortschnipsel-Collage fügen, so wenig überrascht es, dass die aus dem rumänischen Banat stammende Dichterin und die 1924 in Fürth geborene Jüdin sich verstehen. Beide wissen genau, was es bedeutet, wenn der Zufall der Geburt plötzlich Gesetz wird und Verfolgung und Tod nach sich zieht. Beide haben am eigenen Leib erfahren, was es heißt, aus der Heimat ausgewiesen zu werden – die eine aus Nazi-Deutschland, die andere aus der kommunistischen Diktatur in Rumänien. Beide mussten sich in der neuen Heimat erstmal einrichten, und lernten sich mit dem, wer sie sind und was sie tun gegen alle Widerstände zu behaupten.

Kein Zufall auch, dass Nadine Gordimer, die 2014 verstorbene Grande Dame der südafrikanischen Literatur und ebenfalls Nobelpreisträgerin, die gute Freundin als „die menschlich wärmste und anteilnehmendste Frau, der ich je begegnet bin“ beschreibt.  So steht es in Gordimers Nachwort zu Ruth Weiss’ 1995 erschienenen Autobiographie „Wege im harten Gras“, das ebenfalls in jener umfassenden Festschrift mit dem treffenden Titel „Wandernde zwischen den Welten“ abgedruckt ist.

Tatsächlich: Als Ruth Weiss am Vortag ihres 98. Geburtstages auf dem Zoom-Bildschirm erscheint, ist sie der Gesprächspartnerin gleich freundlich zugewandt. Wach, eloquent und bestens informiert spricht sie über den Ukraine-Krieg, Merkels „Wir schaffen das“, Chinas Ausbeutung der Lithium-Reserven in Simbabwe und den neu aufkommenden Antisemitismus in Deutschland. „Ich versuche, mich auch über das Heutige und nicht nur das Gestrige zu informieren. Ich lese immer noch die afrikanischen Nachrichten, vor allem natürlich die über das südliche Afrika. Und gelegentlich schreibe ich auch einen Blog oder so etwas dazu.“

Aber natürlich erzählt die Jahrhundertzeugin auch aus ihrem erstaunlichem Leben. „Ich glaube, der Zufall hat eine ganze Menge in meinem Leben mitzuverantworten.“ Noch immer rollt ihr das fränkische R weich von der Zunge, dabei wollte sie nie mehr im Leben in ihre Heimatstadt Fürth zurückkehren. Diese Stadt, deren Bewohner sie ausgegrenzt, gedemütigt, verfolgt, ihr die Staatsbürgerschaft entzogen, die Heimat genommen und den Großteil ihrer Familie und Freunde ermordet haben. Es mag Zufall gewesen sein, dass ihre Eltern mit der 11-jährigen Ruth fliehen konnten und die Familie just in Südafrika landete, wo das Apartheidssystem zwar nicht mehr sie als Juden, dafür Schwarze und colored people unterdrückte.

Zufall sei es auch gewesen, dass sie Journalistin geworden sei. Zwar zunächst als Ghostwritern für ihren Ehemann, dem besonders Wirtschaftsberichte nicht lagen. Aber bald schreibt sie unter eigenem Namen für deutsche und englische Medien. Als Südrhodesien im November 1965 die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärte, schickte der Chefredakteur der Johannesburger Financial Mail nicht eines der männlichen Schlachtrösser ins Feld, sondern die junge Wirtschaftsredakteurin Ruth Weiss. Wer das Zufall nennt, verkennt das Können, Wissen und die analytische Schärfe einer Frau, die sich in der Männerdomäne Auslands- und Finanzberichterstattung erfolgreich durchgesetzt hat. „Diese stille Frau offenbarte Mut bei ihren politischen Verbindungen und Handlungen. Diese wiederum entstanden aus der nahezu furchteinflössenden Ehrlichkeit, die sie kennzeichnet. Glaubt sie an die Richtigkeit einer Sache, handelt sie entsprechend, im vollen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen“, erinnert sich Nadine Gordimer, die mit Weiss Simbabwes Machthaber Robert Mugabe in dessen Garten besuchte. Auch Nelson Mandela traf Weiss auf dessen Flucht und half nach dem Ende der Apartheid dabei, dass beide Seiten wieder ins Gespräch half. 2005 wurde sie dafür für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Auch in privaten Dingen sei Ruth „nichts weniger als eine hartgesottene Feministin“ schreibt Gordimer. Nachdem ihr Mann ihr schon das Jura-Studium ausgeredet hatte, was sie bis heute bereut, lässt Weiss sich nicht auch noch das Recht auf Mutterschaft nehmen und zieht das vom Mann ungewollte Kind allein auf. Entgegen dem Rat der Freundin. „Aber es ging gut, nicht?“, freut sich Weiss, die heute bei ihrem Sohn in Dänemark lebt. „Er ist sozusagen in der Mitte einer Dienstreise zur Welt gekommen. In England, einem Land, in dem er nach seiner Geburt gar nicht leben würde.“ Denn von London ging es direkt nach Südrhodesien, wo sie zwei Jahre lang als Korrespondentin blieb. Als Weiss wieder nach Südafrika einreisen will, lässt man sie nicht mehr ins Land und entzieht ihr den Pass. Auch Südrhodesien wies sie kurz danach wegen ihrer Berichterstattung aus.

Eine geschiedene Frau Mitte der Sechziger Jahre in Afrika, alleinerziehend, berufstätig, anti-Apartheid und in zwei Staaten persona non grata. Wie schafft man sowas? War das besonders großer Mut? „Resilienz“ wie der Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl sagen würden? Ein außergewöhnlich kühler Kopf in einer schwierigen Situation?

Obwohl: Schwierig? Ruth Weiss nennt es „eine etwas ungewöhnliche Situation. Ja.“

Woher kommt diese Stärke? „Ich sag's mal auf Englisch: adjust. Ich musste mich immer an das Neue anpassen und versuchen, das Problem irgendwie zu bewältigen.“ Und tatsächlich gab es rasch eine Lösung: „Ich hatte damals schon einen ein Angebot vom Guardian“, erzählt Weiss. Und so ging es nach England. Dann als Korrespondentin nach Sambia und schließlich – ungern – doch nach Deutschland, damit der Sohn nicht länger das Internat besuchen musste. In Köln, wo sie als Chefin vom Dienst in der Afrika-Redaktion der Deutschen Welle arbeitete, machte die Holocaust-Überlebende Ende der Siebziger Jahre nicht nur gute Erfahrungen. Bei der Besichtigung einer schönen Altbauwohnung in der Altstadt habe ihr die Besitzerin erzählt, dass das Haus früher Juden gehört habe. „Und in der Wohnung, die mir erst so ideal für mich und meinen Sohn vorgekommen war, lebte eine Mutter mit ihrem schwer behinderten Sohn – bis sie abgeholt wurden. Da bin ich natürlich nicht eingezogen.“

Mehrere Dutzend Bücher hat Ruth Weiss geschrieben, Sachbücher, Romane, es geht um Afrika, das jüdische Leben, den Holocaust. Das Buch „Meine Schwester Sara“ war Prüfungslektüre in Baden-Württemberg. Als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen besucht sie regelmäßig Schulklassen. In Aschaffenburg ist ein Realschule nach ihr benannt. Und doch: Nach 2015, als Merkel wirklich die Tür öffnete und sie dachte „Also habe ich doch recht gehabt: Es ist ein anderes Deutschland“, war der neue Antisemitismus im Land ein Schock für sie. „Was verblüffend und erschreckend ist, ist, dass es Antisemitismus ohne Juden geben kann. Das muss bekämpft werden. Und zwar vor allem durch Vermittlung von historischem Wissen bis ins Detail in den Schulen.“

Wie blickt Ruth Weiss nach bald siebzig Jahren kritischer Beobachtung auf das heutige Afrika? „Die Entwicklungshilfe hat ja nicht das gebracht, was man sich in der ersten Dekade erhofft hatte: Nämlich eine bessere politische und wirtschaftliche  Lage der Afrikaner.“ Diese sei kompliziert, weil viele Länder nicht nur vom Westen abhängig sind, sondern verstärkt von andere Akteuren. „Das Traurige ist die Rolle Chinas. Sie bauen olympische Spielfelder, wenn nötig, oder ein neues Parlament wie jetzt in Simbabwe. Aber sie kümmern sich nicht um die Politik wie der Westen es versucht mit good governance und Menschenrechten und der Bekämpfung von Korruption“, sagt Weiss. „Das hat Nachteile für Afrika und vor allem für die normalen Afrikaner, die nicht zur Elite gehören. Das ist die Mehrheit und die Lage der Mehrheit ist in vielen Ländern elend.“

Gegenseitige Inspiration – was der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck im Vorwort zu diesem Jahrbuch den Schlüssel zur Bewältigung der Krisen nennt, ergänzt die Jüdin Ruth Weiss um einen Aspekt, den der protestantische Pfarrer sicher unterschreiben würde. „Wer Afrika verstehen will, sollte nicht nur auf die Geschichte schauen, sondern auch auf den Glauben. Die Afrikaner waren ja immer gottgläubig – und zwar schon bevor das Christentum kam.“ Außerdem müsse man den Afrikanern erlauben, ihre eigenen Schätze nicht nur selbst zu fördern, sondern ihnen dabei behilflich sein, sie auch selbst zu bearbeiten und zu nutzen. „Und wenn man sich die Bevölkerungszahlen anschaut: Im Jahr 2050 werden die Afrikaner sehr viel jünger sein als der Durchschnitt in Europa. Diese jungen Menschen brauchen Ausbildung und Arbeit. Das gibt Hoffnung.“ Das weiß Ruth Weiss, die mitfühlende Problemlöserin, die mit fast hundert noch dreißig Jahre in die Zukunft schaut, aus eigener Lebenserfahrung.

In ihrem Geburtsland Deutschland kennen sie nur wenige. Im südlichen Afrika aber ist die Autorin, Journalistin und Holocaust-Überlende Ruth Weiss eine Größe. Sie lernte Nelson Mandela kennen und wurde für den Friedensnobelpreis nominiert. Nun wird diese erstaunliche Frau 98 Jahre alt.

Wie der Käfer durch

den Sommer kriecht der

Zufall ins Gesetz wenn

man spricht ist immer

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