Über das Betahaus in Berlin

Montag, siebzehn Uhr im St. Oberholz am Rosenthaler Platz. Berlin Mitte, wie es in der Zeitung steht. An den Cafétischen sitzen schöne Menschen und trinken Kaffee Latte. Die Frauen haben kurze Ponys, die Männer lange. Auf jedem Platz strahlt ein Apfel vom Laptop. Es ist sehr ruhig, denn die Menschen arbeiten. Musik hören sie nur über weiße Kabel. Auch laut tippen tun sie nur selten, meistens schauen sie konzentriert auf ihren Bildschirm. Hin und wieder heben sie den Arm, dann kommt die schlanke Kellnerin und bringt einen neuen Latte. So könnte das ewig weitergehen.

Aber dann tut sich doch was. Um neunzehn Uhr kommen die Vordenker Kathrin Passig, die einen Bachmann-Preis gewonnen hat, und Holm Friebe, der mit seinen Büchern vor allem an seiner eigenen Marke baut. In fast perfekter Symbiose entwickeln sie dann ein neues „Projekt“, texten irgendwas für ihre „Riesenmaschine“ oder verschieben das Ganze auf morgen. Vor allem aber sind sie furchtbar stolz, dass sie keinen Job haben. „Digitale Bohème“ und „intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ heißt das in Fachbüchern, die sich die Vordenker selbst geschrieben haben.

 

Hineingeboren in die digitale Welt

Intelligent und digital mag das ja sein, aber Bohème? Und dieses ewige Fest der Freiheit: Das hat schon fast religiöse Züge. Dabei ist das digitale Leben ohne festen Job für junge Menschen heute nicht mehr ideologisch aufgeladenes Ziel reinigender Emanzipationsbestrebungen. Es ist alternativlose Realität. So sieht das auch Fabian Lübke, der kurz für einen Latte ins Oberholz gekommen ist. Auch wenn er eigentlich etwas zu alt dafür ist, gehört der Dreißigjährige zur Gruppe der sogenannten „digital natives“, die mit der Computertechnik aufgewachsen sind und analoges Leben nur aus Erzählungen kennen.

Mit sechs schaute Fabian seinem Vater beim Online-Banking auf btx zu, mit neun hatte er einen eigenen C64-Computer, mit sechzehn testete er für AOL, ob Internet auch in Deutschland funktioniert. Fabian benutzte schon Apple-Laptops, als die noch orange waren und aussahen wie Klodeckel mit Griff. Seitdem arbeitet er immer mit der neuesten Generation. Trotzdem ist Fabian kein „Computer-Nerd“. Fabian ist Musiker. Seine Songs nimmt er zu Hause auf, gemischt wird auf dem Mac, der Vertrieb läuft über iTunes. Sich der Old-School-Institution eines Labels zu unterwerfen stand für ihn nie zur Debatte. Das hat aber nichts mit Ideologie zu tun. Das ist einfach so. Dass die schönen Menschen im St. Oberholz seine Lebensform als revolutionär und subversiv bezeichnen, findet er absurd. Vielleicht ist Fabian aber auch eben genau die zehn Jahre jünger, die die Leute im St. Oberholz brauchten, um das Internet zu kapieren und sich heroisch vom Arbeitsrhythmus „nine to five“ zu befreien.

Im St. Oberholz hält es Fabian jedenfalls nicht länger aus. Er überlegt, seine Basis jetzt im Betahaus aufzuschlagen. Das hat vor ein paar Wochen fünf U-Bahn-Stationen südlicher am Moritzplatz eröffnet. Von der gar nicht verwunschenen Prinzessinnenstraße geht es an abwrackreifen Mühlen vorbei in den Hinterhof. Die Eisentür des Lastenaufzugs schabt über den Boden und fällt scheppernd zu. Wie eine Guillotine fällt eine zweite Tür vor den Ausgang. Wir rumpeln hoch.

Endlich oben, empfängt uns das Kreischen einer Metallsäge. Die Fenster werden gerade repariert. Letzte Handgriffe aus der analogen Welt. Durch einen weiß gestrichenen Betongang erreichen wir das „Betalab“. Hinter einer rudimentär eingerichteten Kaffeeküche reihen sich Dutzende Schreibtische aneinander. Dahinter sitzen junge Menschen Ende zwanzig mit ihrem Mac. Wie im St. Oberholz ist es auch hier erstaunlich still. Von der Decke hängen schwarze Mehrfachstecker, durch die Fenster zieht es. Zweihundertzwanzig Quadratmeter provisorisches Arbeiten, bis die Räume im Erdgeschoss fertig sind. *ernstfallprob* heißt das hier im Jargon.

 

Freunde treffen Freunde von Freunden

Auch das Betahaus hat seine Vordenker. Tonia Welter und Christoph Fahle sind wie die Leute im St. Oberholz. Nur eben zehn Jahre jünger. Und dass Tonia besser angezogen ist als die meisten Mädchen dort. Sie sieht mehr wie Berlin Mitte aus. Mit kurzem Pony, Rolli und Pumpjeans sitzt sie jetzt auf dem Sperrmüllsofa in der Ecke. Am Handgelenk blinkt ein selbstentworfenes Silberarmband mit integriertem USB-Stick und vier Gigabyte Speicherplatz. Christoph Fahle wirkt daneben eher analog. Aus dem Politikstudium hat er den Habitus des subversiven Denkers und einen fusseligen Wollpulli mitgebracht. Ganz langsam wie für Erstsemester erklärt er die philosophischen Grundlagen des Betahauses.

Für ihn ist es eine „stoffliche Verstetigung des Netzwerkgedankens, der die heutige Welt so grundlegend bestimmt“. Junge Kreative, die online sowieso schon vernetzt sind, mieten an einem Knotenpunkt in der wirklichen Welt einen Schreibtisch, teilen W-LAN, Drucker und Konferenzraum und im besten Fall die Arbeit an einem „Projekt“. „Creative Hub“ nennt Fahle das. Im Prinzip ist es aber nichts anderes als ein Materie gewordenes Facebook: Freunde treffen Freunde von Freunden, und im besten Fall gehen sie sich nicht auf die Nerven.

Solche Ideen waberten natürlich auch schon im Dunstkreis von Kathrin Passig und Holm Friebe. Der Philosoph Frithjof Bergmann etwa entwickelte für die „Digitale Bohème“ das Konzept der Halle. Es ist der Traum von einem quasi-sozialistischen Raum, der alles beinhaltet, was man zum Leben braucht. „Digital natives“ wie Christoph Fahle aber geht es um größtmögliche Reduktion und Anschlussfähigkeit. Interessant ist dabei, dass die neue Generation Netzwerk nicht mehr ohne Apple denken kann. „Das kann Apple genauso gut wie wir“, meint Fahle. Bei Apple gebe es kein Konfigurieren, keine Viren und keinen blöden Turm unterm Tisch. Im Betahaus gibt es deshalb keine Sekretärin, keine Telefongebühren und keinen blöden Mietvertrag. „Einfach ans Netz andocken und losarbeiten“, jubelt Fahle.

Konsequent auf Netzkultur setzen heißt aber auch, dass der Konferenzraum nur via „Clowd-Computing“, also durch die Online-Datenverwaltung über Google oder Mac, gebucht werden kann. Das heißt auch, dass Telefone nur über „Voice over IP“ (also online) funktionieren, wofür man allerdings erst mal diverse neue „accounts“ und ein spezielles Endgerät braucht. Und schließlich heißt es, dass Computer, die nicht von Apple sind, nur noch schwer kompatibel sind. Das gehöre alles zum Konzept, erklärt Christoph Fahle. Schließlich funktioniere das Betahaus, wie der Name schon sage, nach dem Programmier-Prinzip „perpetual beta“, bei dem es immer nur eine vorläufige Version gebe, die weiter und weiter verbessert werde. Aha.

 

Schöne Menschen trinken Kaffee Latte

Während Christoph Fahle redet, dreht Tonia Welter an ihrem Armband. Als Industriedesignerin hat sie die Aufgabe, Fahles digitale Theorien in feste, schöne Formen zu gießen. Natürlich denkt auch sie nur mit Apple. Wie den Fetisch iBook, hofft sie, soll man die geplante Einrichtung im Erdgeschoss sofort anfassen und benutzen wollen. Es muss nicht alles weiß beschichtet sein. Aber die „user“ sollen nicht in den Lederwulsten konventioneller Bürostühle verschwinden, sondern auf organisch geformten Designerstühlen sitzen. Einen großen Sponsor hat Tonia für die Finanzierung schon gefunden. Über ihr „privates Netzwerk“, wie sie ihren persönlichen Freundeskreis nennt. Ein schickes Café mit W-LAN-Netzwerk soll es natürlich auch geben.

So viel anders als im St. Oberholz wird es im Betahaus demnächst also nicht aussehen. Und wenn Christoph Fahle recht hat und die Welt heute nur nach dem Prinzip „perpetual beta“ funktioniert, werden Trendartikel demnächst eben so beginnen: Montag, siebzehn Uhr im Betahaus. Berlin Mitte, wie es in der Zeitung steht. An den Tischen sitzen schöne Menschen und trinken Kaffee Latte. So könnte es ewig weitergehen.

 

(c) SARAH ELSING

Bild: Daniel Seiffert

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 14. April 2009 in der Feuilleton-Beilage Bilder und Zeiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Digitales Arbeiten ohne festen Job ist für junge Menschen keine Emanzipation, sondern alternativlos. Im Berliner Betahaus haben sich ein paar dieser jungen Frauen und Männer unter einem Dach zusammengetan, um die Übergänge zwischen Beruf und Leben, Internet und Alltag verschwinden zu lassen

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